Süddeutsche Zeitung

Kathedrale Notre-Dame:Reims ist das eigentliche Heiligtum Frankreichs

  • Notre-Dame ist die bekannteste gotische Kathedrale Frankreichs. Vielen gilt sie als wichtigstes französisches Nationalsymbol.
  • Aber erst die Französische Revolution machte sie dazu, vorher waren Kirchen Kultstätten der Monarchie.
  • Vor allem Victor Hugo verlieh Notre-Dame mit seinem Roman die Volkstümlichkeit, die sie zur Bürgerkirche werden ließ.

Von Gustav Seibt

Als eine "gewaltige Steinsymphonie, das ungeheure Werk eines Mannes und eines Volkes", bezeichnete Victor Hugo 1831 die Pariser Kathedrale im womöglich populärsten historischen Roman des 19. Jahrhunderts. Nur im Deutschen führt er den "Glöckner" im Titel, nach jener verwachsenen Gestalt, in der die Ziermonster der Zinnen und Wasserspeier lebendig wurden. Im Französischen lautet er schlicht "Notre Dame de Paris". Hauptfigur ist die Kirche.

Hugos grell-romantisches Werk (Goethe schüttelte sich vor Abscheu) besiegelte die Verbürgerlichung des frühgotischen Bauwerks, und damit seine Ästhetisierung. "Das Ganze ist einheitlich und zusammengesetzt zu gleicher Zeit, wie die Ilias und die romantischen Dichtungen, deren Schwester diese Kirche ist", so fuhr Hugos Hymnus fort. "Es ist das wunderbare Erzeugnis aus der Vereinigung aller Kräfte einer Epoche, wo man aus jedem Stein die hundertgestaltige Fantasie des Handwerkers hervortreten sieht, dem der Künstler die Hand lenkte, eine Art menschlicher Schöpfung, doch gewaltig und überreich, wie die göttliche Schöpfung."

Zugleich beobachtete der Romancier präzise den Übergang der Bauweise von wuchtiger, rundbogiger Romanik unten zu luftiger spitzbogiger Gotik oben. Das Kunstwerk wird ihm ebenso historisch wie die Nation, aus dessen Volkskraft es angeblich entsprang. Bei Hugo ist sie der Raum einer ganzen Gesellschaft. Diese Vorstellung aber konnte erst seit der Französischen Revolution ausgebildet werden. Heute ist Notre-Dame die bekannteste gotische Kathedrale Frankreichs, und die am meisten besuchte. Vielen gilt sie sogar als wichtigstes französisches Nationalsymbol.

Doch die Karriere als Nationaldenkmal begann erst spät, mit der Französischen Revolution. Zuvor war Notre-Dame als Pariser Bischofskirche ein Ort gewesen, den sich Monarchie und Stadt teilten, an dem sie sich trafen. "Paris ist eine Messe wert", sagte Heinrich IV., der zum Katholizismus konvertierte, und diese Messe wurde hier gefeiert. Dabei war die Pariser Kathedrale nur eine von mehreren Kultstätten der französischen Monarchie, und nicht unbedingt die wichtigste.

In Saint-Denis vor den Toren von Paris wurden seit dem zehnten Jahrhundert die meisten französischen Könige und Königinnen begraben. Saint-Denis ist auch der Ursprungsort der Gotik, hier errichtete der legendäre Abt Suger seit 1141 jenen lichtdurchfluteten Chor aus spitzbogigen Kreuzrippengewölben, der zum Modul aller späteren gotischen Kirchen wurde.

Weit prunkvoller als ihre Pariser Schwester ist die Kathedrale Reims

Schon die frühmittelalterlichen Frankenkönige hatten sich vielfach hier begraben lassen. In diese fränkische Zeit reicht auch die zweite monarchische Hauptkathedrale Frankreichs zurück, die von Reims. Sie fand im 13. Jahrhundert, kurz nach Paris, ihre gotische Form und ist in ihrer schreinartigen, von Skulpturen überwucherten Ausgestaltung weit prunkvoller als ihre Pariser Schwester.

Dass die Deutschen 1914 dieses kostbare, der Nation heilige Bauwerk bombardierten, entschied den Ersten Weltkrieg moralisch schon ganz am Anfang gegen sie. Die damaligen Bilder des Brandes gleichen auf schockierende Weise den heutigen. Umso bedeutsamer und bewegender war dann der Umstand, dass der große französisch-deutsche Versöhnungsgottesdienst mit Charles de Gaulle und Konrad Adenauer 1962 in dieser Kirche zelebriert wurde. Reims ist das eigentliche Heiligtum Frankreichs, zugleich wurde es zu einem politischen Symbol. Die Revolution konnte an den Reimser Ritus nicht anknüpfen, und so krönte sich Napoleon 1804 wohl oder übel in Notre-Dame in Paris. Die Kathedrale war erst zwei Jahre zuvor wieder für den katholischen Kultus geöffnet worden, nur ein Jahrzehnt, nachdem sie 1793 zum "Tempel der Vernunft" mit dem Kult des "Höchsten Wesens" umgewidmet worden war.

Doch erst Victor Hugos Roman verschaffte ihr die Volkstümlichkeit, die sie zur Bürgerkirche, zur Kathedrale der nachrevolutionären Nation werden ließ. Dieser Verwandlungsprozess war mit vielen Restaurierungen und Umbauten verknüpft, er wurde geprägt von den großen Gotik-Debatten, die in Frankreich seit der Mitte des 19. Jahrhunderts von Schriftstellern und Wissenschaftlern geführt wurden.

Für diese Diskussionen, in denen die Gotik als nationaler Stil entdeckt und die Kathedralen als Gesamtkunstwerke und Zeichensysteme bis ins Einzelne dechiffriert wurden, spielte Paris allerdings nur eine untergeordnete Rolle. Die wichtigste Kathedrale fürs französische Gotik-Verständnis wurde Chartres, nicht zuletzt wegen seiner großartigen Glasbilder. An Chartres orientierten sich die Deutungen von Joris-Karl Huysmans, Émile Mâle und Marcel Proust. Wieder waren es brillante Stilisten, die das nationale Selbstverständnis kunsthistorisch anreicherten. Auch wer als Nichtfranzose heute um Paris trauert, bewegt sich, ob er das nun weiß oder nicht, immer noch auf den Pfaden dieser Kathedralenliebhaber. Denn ihre Werke standen auch am Beginn der Erforschung aller europäischen Kathedralen, zu denen deutsche Kunsthistoriker später so viel beitrugen. Der Kölner Dom wäre im 19. Jahrhundert kaum ohne den vergleichenden Blick nach Frankreich fertiggestellt worden.

Und umgekehrt hätten französische Schriftsteller vielleicht nicht so für ihre Gotik gekämpft, hätte nicht der junge Goethe als Student in Straßburg die Gotik als deutschen Stil gefeiert. Victor Hugos folgenreicher Roman fand Goethes Gefallen nicht, dabei gehörte er zur Wirkungsgeschichte von dessen begeisternder Jugendschrift. Darin hatte er die gotischen Kirchen mit riesigen Hütten aus zusammengelegten Bäumen verglichen und zu Naturkunstwerken erklärt. Den 800-jährigen Dachstuhl, der nun verbrannte, nannten die Liebhaber der Kirche ihren "Wald".

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SZ vom 18.04.2019/cag
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