Süddeutsche Zeitung

Zukunft von Notre-Dame:Vom Dilemma, eine Kathedrale wiederaufzubauen

Lesezeit: 2 min

Beim hastig ausgerufenen Architektenwettbewerb für Notre-Dame stellt sich die grundlegende Frage: Wie viel Gegenwart und wie viel Zukunft ist nötig, um die Vergangenheit zu retten?

Von Gerhard Matzig

Die Flammen in Notre-Dame waren noch nicht gelöscht, als Frankreichs Präsident Emmanuel Macron einen Schwur tat: "Wir werden Notre-Dame noch schöner wiederaufbauen, und ich will, dass das in fünf Jahren abgeschlossen wird. Wir können das schaffen." Eigentlich denkt man, zumal aus deutscher Sicht, müsste die Wir-schaffen-das-Rhetorik in Zeiten eines porös gewordenen Wir-Begriffes ja gelehrt haben: Politisch klug ist solche Redekunst nicht unbedingt.

Aber manchmal muss es eben Pathos sein. Damit der kunsthistorisch sagenhaft unseriöse Fünfjahresplan mit militaristischen Mitteln durchgepeitscht wird, hat Macron einen Ex-General, Jean-Louis Georgelin, zum Bauaufseher in Paris ernannt. Der Général d'armée war bis 2010 Generalstabschef. Seine Mission bezeichnet er als "Schlacht" und "Frage des Willens". Und nein, er habe nicht vor, seine Zeit mit kunsthistorischen Symposien zu verplempern. Bitte, unsere liebe Frau von Paris, denkt man entgeistert, müssen manche Lunten so kurz sein?

Die Sehnsucht nach dem "Original" führt zu Mimikry und Travestie

Sind schon 60 Monate zur Rekonstruktion eines Monuments von Weltrang, dessen Schäden (zum Beispiel am mittelalterlichen Mauerwerk) noch nicht ansatzweise angemessen bestimmt sind, ignorant - zur Posse wird das Unglück auch durch das Versprechen, die Kathedrale wolle man "noch schöner" werden lassen. Kein Wunder, dass sich nun Architekten wie Fotoshopper herausgefordert sehen. Der Reigen der Entwürfe ist staunenswert. Wenn man einmal absieht vom vielleicht provokativ gemeinten, tatsächlich absurden Vorschlag von Tom Wilkinson (Verschönerung der ziemlich gotischen, aber auch ziemlich römisch-katholischen Kathedrale durch ein "anmutiges Minarett"), dann gibt es keine Stahl-Glas-Formalismen mehr, mit denen sich Notre-Dame nicht überformen ließe. Nach einem Interview mit Norman Foster hat die Times beispielsweise einen angeblichen Foster-Entwurf in Umlauf gebracht. Zu sehen ist - anstelle des verbrannten Dachstuhls - ein Glasdach und ein nadelspitzer Stahlturm samt Aussichtsplattform. Das Büro Foster distanziert sich nun davon. Möglicherweise auch wegen der Aufregung, die die Skizze im Netz hervorgerufen hat. Dennoch lobt Foster den bereits hastig, ja überstürzt ausgelobten Architektenwettbewerb. Der biete die Chance, dem ikonischen Bau ein zeitgemäßes Gesicht zu geben.

Dagegen bringen sich nun die Anhänger einer anderen Idee in Stellung. Sie würden am liebsten erst mal die 1 300 Eichen, aus denen der Dachstuhl bestand, wiederaufforsten, um dem "Original" so nahe wie möglich zu kommen. Aber was bitte schön soll das sein? Der erste Spatenstich 1163? Der Dachstuhl des 13. Jahrhunderts? Die baulichen Veränderungen im 18. oder die Sanierung im 19. Jahrhundert? Es gibt kein Original-Notre-Dame, weil fast alle Gesellschaften zu fast allen Zeiten daran weitergebaut haben, so wie das bei Sakralbauten immer schon üblich war. Die Sehnsucht nach dem "Original" à la carte führt zu Mimikry bis Travestie. Die Gotik selbst war jene Ära, die sich selbstbewusst neu erfand.

Natürlich stellt sich auch beim Wiederaufbau von Notre-Dame die Frage, wie viel Gegenwart und Zukunft zur Rettung der Vergangenheit zu bemühen sind. Das Nachdenken und Befinden darüber wird, das zeigt die Geschichte der Rekonstruktionsdebatten in aller Welt, kompliziert. Um einem Bauwerk gerecht zu werden, das mehr Narrativ als Bau und Werk ist, wird man vor allem auch die Zeit brauchen, um in einer Ansammlung von guten Ideen die beste Vision zu identifizieren. Sie zu kommunizieren. Dann zu planen. Dann zu rechnen. Und dann zu sagen, bis wann Notre-Dame wieder das ist, was es auch jetzt schon ist: eine Kirche.

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Quelle:
SZ vom 27.04.2019
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