Süddeutsche Zeitung

Nothilfe für Künstler:Im Auftrag des Staats

In der Ära des New Deal setzte die US-Regierung Tausende Künstler in Lohn und Brot. Könnten auch heute öffentliche Kunstprogramme der Kultur durch die Krise helfen?

Von Kito Nedo

Millionen Arbeitslose, grassierende Obdachlosigkeit, Kinderarmut und Hunger - die einschneidende Wirtschaftskrise, die Amerika während der Dreißigerjahre durchlitt, ging als die "Große Depression" in die Geschichte ein. Mit dem Demokraten Franklin D. Roosevelt wählten die Amerikaner 1932 einen Präsidenten ins Amt, dem es mit großangelegten sozialpolitischen Initiativen und wirtschaftspolitischen Reformen schließlich gelang, das Land aus der Krise zu führen und das demokratische System am Leben zu erhalten. "Das Einzige, was wir zu fürchten haben, ist die Furcht selbst", hatte "FDR" 1933 bei seinem Amtsantritt auf dem Höhepunkt der Krise den Landsleuten zugerufen und ihnen so Mut und Zuversicht zurückgegeben.

FDR ließ nicht nur Staudämme, Nationalparks und Schulen bauen, er ließ auch Bilder malen

Im Zuge von Roosevelts "New Deal"-Politik wurden im staatlichen Auftrag Straßen, Brücken, Staudämme, Flughäfen und Schulen gebaut und so über acht Millionen Amerikaner zurück in Lohn und Brot gebracht. Unter denen, die damals Hilfe vom Staat erhielten, waren auch Tausende Künstler. Im Rahmen von Programmen wie dem Public Works of Art Project (PWAP, 1933 - 1934) oder der Works Progress Administration - Federal Art Project (WPA-FAP, 1935 - 1943) schufen sie Wandbilder und Skulpturen für öffentliche Gebäude, gestalteten Poster für staatliche Aufklärungskampagnen, malten Straßenszenen und fotografierten "the American scene", den amerikanischen Alltag.

Als der New-Deal-Administrator Harry Hopkins gefragt wurde, warum die Regierung arbeitslosen Künstlern Aufträge geben sollte, lautete die Antwort kurz und bündig: "Verdammt, die müssen genauso essen wie andere Menschen auch." Hinter der Unterstützung der Künstler stand die Einsicht, dass die Kunstproduktion eben auch Arbeit ist und dass Künstler als Kulturarbeiter einen wertvollen Beitrag zum gesellschaftlichen Zusammenhalt leisten. Es war ein Experiment in nie da gewesenen Dimensionen mit offenem Ausgang.

Schriftsteller und Fotografen schwärmten im staatlichen Auftrag aus, um Amerika im Spiegel der Depression zu dokumentieren und zugleich den Überlebenswillen der modernen Nation heraufzubeschwören. Eudora Welty fotografierte Mississippi auf dem Höhepunkt der Depression, Berenice Abbott, die ursprünglich Bildhauerei studiert hatte, fotografierte im Auftrag der WPA in ihrem kartografisch-ausufernden Projekt "Changing New York" die rapide Veränderung der Metropole.

Doch die wahrscheinlich einflussreichste fotografische Ikone der Depressions-Ära entstand im Auftrag der Farm Security Administration (FSA), die zum Landwirtschaftsministerium gehörte: 1936 fotografierte Dorothea Lange in Kalifornien eine verzweifelte Wanderarbeiterin mit drei (von sieben) Kindern. Das Bild mit dem Titel "Migrant Mother" wurde anschließend millionenfach in Zeitungen und Zeitschriften reproduziert und zum Meilenstein der sozialdokumentarischen Fotografie.

Die staatlichen Initiativen gaben insbesondere jüngeren Künstlern die Chance, in einer scheinbar aussichtslosen Lage trotzdem professionell zu arbeiten. Jacob Lawrence (1917 - 2000) etwa, dessen Bilder Anfang der Vierzigerjahre als erste Werke eines afroamerikanischen Malers überhaupt in die Sammlung des New Yorker Museums of Modern Art eingingen und heute auf dem Kunstmarkt für Millionen gehandelt werden, war Anfang 20, als er sein erstes Einkommen über die WPA bezog. Vorher hatte er als Zeitungsausträger und in Wäschereien Geld verdient.

"Die WPA hat mir das Leben gerettet", sagte auch die abstrakt arbeitende Malerin Lee Krasner (1908 - 1984) über die Jahre, in denen sie Hilfe von der Works Progress Administration erhielt. "So konnte ich weiterhin buchstäblich am Leben bleiben und malen." Auch ihr Mann und Künstlerkollege Jackson Pollock und ihr Freund und Nachbar James Brooks wurden durch das Programm unterstützt, ebenso wie Willem de Kooning, Mark Rothko, Philip Guston oder Alice Neel.

Die Auseinandersetzung zwischen Kunst und Gesellschaft war für beide Seiten ein Gewinn. Einerseits kamen - etwa durch FAP-Kunst-Kurse und die neu gegründeten kommunalen Art Centers - plötzlich viele Amerikaner zum ersten Mal in ihrem Leben direkt mit Kunst in Berührung, was deren Funktion als demokratisches Mittel festigte. Andererseits politisierten und organisierten sich die Künstler und nahmen an zahlreichen Demonstrationen teil, um ihre Interessen durchzusetzen.

Im Dezember 1936 protestierten mehrere Hundert wütende Künstlerinnen und Künstler - unter ihnen auch Lee Krasner - vor dem New Yorker WPA-Büro gegen bevorstehende Mittelkürzungen und Entlassungen; die herbeigerufene Polizei nahm über 200 Demonstranten fest.

1942 ordnete Roosevelt schließlich die Abwicklung der Works Progress Administration an. Dass nicht alle vom Wert des Geschaffenen überzeugt waren, zeigt der Umgang mit dem Erbe, denn ein Teil der unter der Ägide der WPA entstandenen Kunst wurde einfach vernichtet.

Dass die Kunstgeschichte durchaus auch Diskussionsstoff für die Gegenwart bietet, zeigen die Forderungen, die der Kurator Hans-Ulrich Obrist vor ein paar Tagen in die Öffentlichkeit brachte. Der künstlerische Direktor der Londoner Serpentine Gallery forderte von der britischen Regierung groß angelegte Hilfsprojekte für die Kunstszene, die sich an Roosevelts New-Deal-Programmen orientieren sollten.

"Dank der WPA gingen die Künstler in die Gesellschaft. Künstler bekamen Gehälter und konnten während der New-Deal-Ära recherchieren und Werke schaffen", sagte Obrist im Guardian. "Viele bekamen ihre ersten richtigen Jobs und Aufträge."

Obrist appellierte auch an die Kunstinstitutionen: "In dieser Zeit der Krise ist es wichtig, dass die Museen darüber nachdenken, wie sie über ihre Mauern hinausgehen und jeden erreichen können." Nachdem die Situation unter Kontrolle gebracht sei, müsse die Kunst besonders zu Gemeinschaften gebracht werden, die "normalerweise keinen Zugang zu ihr haben". Freier Museumseintritt müsse "die Basis" für diese Bemühungen bilden und "Großzügigkeit" das Medium.

Der Künstler und Publizist Dmitry Vilensky bezweifelte kurz darauf im Netz, ob Obrists Vorschläge weitreichend genug seien. Das Warten auf die Rückkehr eines Normalzustands, in dem die einst gewohnte Kunstproduktion wieder aufgenommen werden könne, sei vergeblich. Er denke "dass die Künstler nicht einfach abwarten können, bis alles wieder normal ist (...) und dann in der gleichen Weise weiter Kunst produzieren und liefern wie bisher." Auch die gerade von fast allen Museen und Galerien praktizierte Verlegung des Kunstgeschehens auf Online-Plattformen sei bald ausgereizt und sorge vor allem für Frust.

Was nun gebraucht werde, so Vilensky, seien gänzlich neue künstlerische Ansätze und Formen, die der "radikalsten Veränderung, die wir je erlebt haben", gerecht würden. Der Mitbegründer der russischen Künstlergruppe Chto Delat rief die internationale Kunstszene dazu auf, sich nicht mit Entschädigungen für abgesagte Ausstellungen oder finanziellen Soforthilfen zufriedenzugeben, auch wenn das wichtige Initiativen seien. Derzeit stünde viel mehr auf dem Spiel. Denn die zeitgenössische Kunst könne eine ihrer zentralen Funktionen gerade nicht erfüllen, nämlich die, "den zeitgenössischen Moment zu erfassen". Deshalb, so Vilensky, müsse jetzt nach Wegen gesucht werden, um die Epidemie "in allen möglichen Formen der Reflexion zu erfassen".

Wie würde es wohl aussehen, wenn eine international gestimmte Kulturpolitik nicht das Abwarten, sondern das Handeln in der Gegenwart und das Reagieren auf diese jetzt als wichtigste Aufgabe der Kulturproduktion definieren würde? Warum sollten Künstlerinnen und Künstler nicht ähnlich energisch wie die Forscherinnen und Forscher in den Laboren durch die Politik unterstützt werden?

Auch die Kunst kann ihren Teil dazu beitragen, die Veränderungen und sozialen Verwerfungen verstehen zu helfen, die sich gegenwärtig in einem schwindelerregenden Tempo abspielen. Und sie kann dazu beitragen, Widerstandskräfte dafür zu entwickeln.

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SZ vom 04.04.2020
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