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Norwegische Literatur:Werden und Verkaufen

Migration, Kunstwelt, große Liebe: Johan Harstads 1200-Seiten-Epos "Max, Mischa und die Tet-Offensive" erzählt meisterhaft von den postmodernen Jahrzehnten.

Von Wolfgang Hottner

Wenn ein liebeskranker Theaterregisseur auf mehr als 1200 Seiten von amerikanischem Imperialismus, einer lebenslangen Obsession mit Francis Ford Coppolas "Apocalypse Now!" sowie diversen Migrationstraumata zu erzählen versucht, kann das eigentlich nicht gutgehen. Epische Überambitioniertheit, Geschwätzigkeit und Mann-ohne-Eigenschaftigkeit liegen in der Luft. Doch Johan Harstads "Max, Mischa und die Tet-Offensive" ist kein Monumentalroman, sondern ein irrsinniges Geflecht aus Lebensläufen und Katastrophen; der Versuch, Coming-of-Age-Drama und einen Künstlerroman mit verschiedenen Auswanderungs- und Liebesgeschichten zu verbinden. Harstads Prosa quillt dabei über vor Witz, Cameoauftritten und Details, die niemals bloßer Selbstzweck sind, sondern Teil in einem Ganzen, das dem Leser sein schieres Ausmaß an keiner Stelle aufdrängt.

Orchestriert werden die Fäden des Romans von dem Erzählerprotagonisten Max Hansen. Dieser ist ein erfolgreicher Theaterregisseur und tourt mit einer neuen Inszenierung durch Amerika, jenem "Land der Heimatlosen", in das er vor 20 Jahren als Teenager aus dem norwegischen Stavanger emigriert ist. Irgendwo in Minnesota wird ihm klar, dass er am Ende ist und dringend einen Neuanfang benötigt: Seine langjährige Partnerin, die bildende Künstlerin Mischa Grey, hat ihn verlassen, sein Onkel Owen Larsen, der Ende der 1960er nach Amerika kommt, um Jazzmusiker zu werden und der die Erfahrungen aus der Hölle eines sinnlosen Krieges nicht mehr loswird, ist kürzlich gestorben.

Das Theater ist für Max zur bloßen Routine verkommen, er beginnt sich zu wiederholen und vom Betrieb zu entfremden, eine Produktion gleicht der anderen, keine Differenz in all den leeren Wiederholungen: "Der Tag beginnt. Nichts zu machen. Das Schlimmste, kein einziger Morgen ohne diese allumfassende Enttäuschung: noch ein Tag. Nie eine Fortsetzung an dem Punkt, wo der vorherige endet, sondern ein Dienstag, der immer weiter Dienstag bleibt, bis der erste Schnee fällt, alles wird von neuem angestoßen, pedantisch und ausnahmslos, alle vierundzwanzig Stunden, auf die Minuten und die Sekunde, wie ein bockiges, altkluges Kind, das mit seiner absurden Pünktlichkeit Eindruck schinden will."

Der Verlust der Heimat geht einher mit der Geburt des Künstlers aus dem Geist der Migration

Mit diesen Sätzen setzt Max' Versuch ein, der Unerbittlichkeit der Zeit zu entkommen. Es ist der Anfang einer Suche "nach dem Heimweg oder (die) Verzögerung des Moments, in dem wir akzeptieren müssen, dass es dafür zu spät ist." Max glaubt dabei, sein Trauma klar benennen zu können: Seit er mit seinen Eltern und seiner Schwester aus Stavanger nach Long Island übergesiedelt ist, wird er sich als Entwurzelter verstehen wollen. Das Verlassen der norwegischen Westküstenbeschaulichkeit kostet ihn immerhin sein ohnehin fragiles Selbst und seine Muttersprache.

Doch dieser Verlust geht zugleich einher mit seiner Geburt als Künstler aus dem Geist der Migration: Unablässig schreibt er Briefe an seine alten Freunde in Norwegen und erfindet sich darin lauter amerikanische Abenteuer, die nicht passieren - bis er in der Theatergruppe seiner Highschool seinem neuen besten Freund Mordecai begegnet. Ihre gegenseitige Abhängigkeit ist, wie jede Jugendfreundschaft in der Provinz, eine Mischung aus überzogenem Nerdtum, unbedingter Komplizenschaft und ausgestellter Obsession für obskure Filme, Bands und alles, was mehr oder weniger übertüncht, dass man zutiefst verunsichert durch die Welt stolpert.

Mordecai bringt den blassen Norweger schließlich mit der sieben Jahre älteren Kanadierin Mischa zusammen, einer in Brooklyn lebenden bildenden Künstlerin, die der Schauspielerin Shelley Duvall aus Robert Altmans Science-Fiction-Komödie "Brewster McCloud" ähnelt und deren Portrait auf dem Cover des Romans zu sehen ist.

Mit dieser schicksalhaften Begegnung wird Max' Coming-of-Age-Geschichte zum Künstlerroman. Mischa ermutigt Max, bestärkt ihn in seinen vagen künstlerischen Ambitionen, und er verändert sich von jemandem, "der sich wünschte, nach Hause zurückzukehren, in jemanden, der wünschte, er würde sich wünschen, nach Hause zurückzukehren." Zusammen werden Max und Mischa im Laufe der 1990er zu gefragten "postmodernen" Künstlern, die in bedeutenden Museen ausstellen und hoch dotierte Preise erhalten.

Obwohl der Roman von postmoderner Kunst erzählt, verkommt er nie zu einer Mimikry

In seinen Stücken inszeniert Max die Antidramatik des Wartens, er verwischt die Grenzen zwischen Bühne und Zuschauerraum, während Mischa hyperrealistische Bilder von Waschmaschinen malt und das "Grenzgebiet" zwischen Malerei, Fotografie und Film "erkundet". Immer wieder thematisieren sie die amerikanische Geschichte, ihr eigene Amerikanisierung, um irgendwann der politischen Kunst den Rücken zu kehren und die eigene Biografie, das Alltägliche zu entdecken.

In Max und Mischas Künstlerbiografien verhandelt Harstad exemplarisch die Geschichte ästhetischer Moden und des Kunstbetriebes von der Mitte der 1990er Jahre an bis zur Gegenwart. "Max, Mischa und die Tet-Offensive" verkommt trotzdem an keiner Stelle zu einer Mimikry der postmodernen Subversionen oder der schillernder Popkultur, von der er erzählt. Harstad verfährt nahezu historiografisch, indem er die Prämissen der Postmoderne bis zu ihrem vermeintlichen Ende in der Gegenwart der Memoires und Autobiografismen verfolgt. Nicht umsonst besteht ein Großteil des Romans aus tagebuchartigen Aufzeichnungen von Max' Onkel, der eigentlich Ove heißt.

Die von Max kompilierten Tagebücher seines Onkels, dessen tragische Auswanderungsgeschichte seinen eigenen Erfolg konterkariert, sind nur ein Beispiel aus einem Roman, der voll ist von fiktiver Kunst, irrwitzigen Werktiteln und "invasiven Fußnoten" aus Ausstellungskatalogen. Harstad erzählt nicht nur die Lebensläufe diverser Künstlerfiguren, er erfindet ganze Werkkomplexe.

Da er auch als Designer und Grafiker tätig ist und sein Schreibprozess bisweilen mit den Entwürfen zu einem möglichen Cover beginnt, reicht es Harstad nicht, sich Titel für postmoderne Theaterstücke und Ausstellungen auszudenken. Seine Erfindungsgabe kulminiert in einem Ausstellungskatalog zu Mischa Greys Retrospektive im New Yorker Whitney Museum, der an verschiedenen Stellen des Romans wichtige Hinweise zur Geschichte Max', Mischas und Owens liefert. Harstad hat diesen Katalog samt der Bilder und Texte tatsächlich veröffentlicht, als Teil der limitierten ersten Auflage des Romans im Jahr 2015 (in der deutschen Ausgabe sind Ausschnitte davon auf der Innenseite des Einbands abgedruckt). Der pseudo-fiktive Katalog setzt sich insbesondere mit ihren späten "autobiografischen Gemälden" auseinander, die wie Owens Tagebücher und Max' Erinnerungen mit der eigenen Vergangenheit umzugehen versuchen.

Es ist auch ein Liebesroman, der unglaublich präzise von der Überwältigung früher Liebe erzählt

All diese Erinnerungsprojekte variieren die Fragen, die sich der Roman auch selbst stellt: Wo war der Punkt, an dem man anfing, der zu werden, der man jetzt ist? Wie lassen sich die Dinge, wie sie sich entwickelt haben, als eigene Geschichte erkennen? Lohnt sich der Aufwand, sich anzupassen, das alte Selbst hinter sich zu lassen, nur um dann zu fragen, wo man es bloß gelassen hat, wann man diese andere Person wurde, die man nun ist, und möglicherweise gar nicht mehr sein will?

Eines macht der Roman deutlich: Anfänge geben sich selten als solche zu erkennen, vielmehr müssen sie nachträglich zu diesen gemacht werden. Zu Ereignissen, die Leben verändern, zu folgenreichen Konstellationen, durch die plötzlich alles klar wird.

Für Max ist ein solcher Anfang die Begegnung mit Mischa, eine Überwältigung und ein Hingerissensein, das Harstad über mehr als 30 Seiten mit unglaublicher Präzision in Szene setzt. Spätestens an dieser Stelle wird klar, dass "Max, Mischa und die Tet-Offensive" (auch) ein großer Liebesroman sein möchte, eine Reflexion über die Abhängigkeit von einer geliebten Person, das Verlassenwerden und die unausweichlichen Klischees einer jeden wahren Liebe.

Die Geschichte von Max' und Mischas Liebe führt aber zugleich die Angst vor Augen, einem solchen fulminanten Anfang nicht mehr gerecht zu werden. Die Frage "Und wer waren wir geworden?" stellt sich vom Ende her, in Anbetracht der Katastrophe, dann, wenn nichts mehr zu machen scheint, nur ein weiterer Tag beginnt. Als Anzeichen eines Endes birgt die Frage nur dann einen Anfang, wenn sie bloße Vergangenheit zu Geschichte werden lässt, diese als Geschichte erkennen lässt. Ob der Katastrophenparcours, an dem sich der Roman und sein melancholischer Protagonist entlang hangelt, in eine mögliche Zukunft (für ihn und Mischa) weist, bleibt letztlich offen, muss offen bleiben, gilt doch für jedes Ende, das ein Anfang sein will: "Zeit war schon immer ein Problem. In die eine oder andere Richtung."

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Quelle:
SZ vom 01.04.2019
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