Norwegische Literatur:Singers Grübeleien

Norwegische Literatur: Soll es das gewesen sein? In den Siebzigern war Dag Solstad Maoist, heute schreibt er melancholische Romane über das Ende der Utopien, über Glück und Unglück eines unpolitischen Lebens.

Soll es das gewesen sein? In den Siebzigern war Dag Solstad Maoist, heute schreibt er melancholische Romane über das Ende der Utopien, über Glück und Unglück eines unpolitischen Lebens.

(Foto: mauritius images / Alamy / Stefano Mazzola)

Kein Autor wird in Norwegen verehrt wie der große Melancholiker Dag Solstad. Endlich gibt es seinen wichtigsten Roman "T. Singer" auch auf Deutsch.

Von Wolfgang Hottner

In der Literatur geht es auch nicht gerechter zu als in der Wirklichkeit, deshalb wimmelt es auch dort von Enttäuschten. Effi Briest und Emma Bovary waren von ihren Ehemännern grandios enttäuscht, Balzacs Lucien Chardon von der Pariser Medienwelt. Und doch schreibt über Enttäuschung niemand wie der Norweger Dag Solstad. Die meisten seiner (überwiegend männlichen) Figuren sind Desillusionierte. Der Studienrat Elias Rukla aus "Scham und Würde" beispielsweise, der sein verpfuschtes Leben irgendwann nicht mehr erträgt, oder der fünfzigjährige Bjørn Hansen aus "Elfter Roman, achtzehntes Buch", der der Illusion eines gestohlenen Glücks nachhängt.

Solstad selbst ist ein von den politischen Utopien seiner Jugend Enttäuschter: In den Siebzigern war er prominentes Mitglied der maoistischen Arbeiterpartei AKP, einer radikalen Gruppierung mit dem Ziel, den norwegischen Staat zur Not mit Waffengewalt zu stürzen. Er schreibt mehrere Romane über die Arbeiterklasse im Stil des Sozialrealismus, wird einflussreicher Redakteur der (zu dieser Zeit sehr) linken Tageszeitung Klassekampen.

Nachdem er diese politischen Hoffnungen begraben musste, avancierte er in den Neunzigern zum Chronisten norwegischer Wirklichkeiten, den Idealen und Abgründen einer durch die Erdölvorkommen reichen Gesellschaft. Solstad wird in seiner Heimat wie kaum ein anderer Autor verehrt, jedes neue Buch ist ein Großereignis, schon jetzt spekulieren norwegische Zeitungen über Solstads neuen Roman, der im Herbst erscheinen wird.

Singer ist Anfang dreißig, ein verstockter und schamhafter Langweiler

Nun ist auch "T. Singer" auf Deutsch erschienen, der Roman, den Solstad selbst einmal als den krönenden Abschluss seines Werks bezeichnet hat. Seit "T. Singer" vor 20 Jahren erschienen ist, hat Solstad freilich weitergeschrieben - eine Autobiografie, einen ellenlangen Roman über seine Vorfahren in der Provinz Telemark, mithilfe dessen die amerikanische Autorin Lydia Davis, so geht die Legende, Norwegisch gelernt haben soll. Solstads Prosa verfügt über einen ganz eigenen Ton: oft im Gestus der Mündlichkeit erzählt, aus- und abschweifend und dennoch präzise, fließen lange Satzketten dahin, getragen von allgegenwärtigen und zugleich unaufdringlichen Erzählerstimmen.

Singer ist Anfang dreißig, ein verstockter und schamhafter Langweiler, das Gegenteil eines Helden. Eine Figur, die sich eigentlich nicht erzählen lässt und die auch selbst nichts zu erzählen hat. Der lang gehegte Wunsch, Schriftsteller zu werden, erfüllt sich nicht, nie kommt er über ein paar klischeehafte Sätze hinaus. Singer war bis dahin schon alles Mögliche: unter anderem Übersetzer von Wildwest-Romanen, Nachtportier und Verkäufer in einem Spirituosenladen: "Er hatte sein Leben als Betrachter vergeudet, und währenddessen verrann die Zeit, und die Jugend gleich mit, ohne dass Singer einen Finger gerührt hätte, um sie festzuhalten und den beneidenswerten Zustand der Jugend zu genießen. Er war ein rückgratloser Grübler, ein identitätsloser Lebensverleugner, ein ganz und gar negativer Geist, der das Ganze auf nahezu selbstaufopfernde Weise betrachtete." Singer beschließt, sein Leben zu ändern, er wird Bibliothekar, zieht in die Provinz nach Notoden eine Stunde südwestlich von Oslo. Er legt sich neue alltägliche Routinen zu, lebt so dahin. Einen "Hüter der Bücher" nennt der Erzähler ihn nach gut hundert Seiten und eigentlich gibt es auch nicht mehr zu sagen.

Doch der Erzähler dieses Romans möchte seine Figur nicht in Frieden lassen. Zufälle müssen her, Singer wird ins Leben versetzt und Singer, der bislang in seinem eigenen Leben nur die Nebenfigur war, zur Hauptfigur. In diesem Versuchszusammenhang verliebt sich Singer in die junge Töpferin Merete Sæthre.

Er zieht mit ihr und ihrer kleinen Tochter Isabella zusammen, lernt kochen, macht einen Führerschein. Doch bereits nach zwei Jahren Verliebtheit beginnt die Beziehung zu bröckeln. Singer ist zunehmend abwesend, verliert sich in Grübeleien, weiß nicht, was dieses, sein Leben zu bedeuten hat.

Der Erzähler greift nun zu einer drastischen Maßnahme. Kurz vor der Scheidung verunglückt Merete bei einem Autounfall, wahrscheinlich auf dem Weg zu ihrem Liebhaber. Und was macht Singer? Er strauchelt kurz, geht dann in sich und beschließt, Isabella zu sich zu nehmen. Er zieht mit ihr nach Oslo, findet eine Anstellung in der Stadtbibliothek. Noch einmal beginnt er ein neues Leben, noch einmal richtet er sich in grauer Alltäglichkeit ein.

Zu dem Kind kann er keine Beziehung aufbauen, es bleibt ihm fremd, obwohl es Züge von ihm selbst anzunehmen scheint: "In der Bibliothek ging das Leben seinen gewohnten Gang, Singer war in die Arbeit versunken, und die Stunden flogen in all ihrer Ereignislosigkeit nur so dahin, fast ohne dass er es merkte (...) Hin und wieder verspürte er den Wunsch, stehen zu bleiben und die Hände vor das Gesicht zu führen, als wollte er es verbergen, und 'Nein, nein' zu schreien. Das geschah jedoch nur hin und wieder. Meistens war er nur besorgt, lief ratlos mit seiner Sorge durch die Gegend."

Solstad bezeichnete seinen Protagonisten Singer einmal als Schatten seiner selbst

Singer ist sich, seiner Umgebung und vor allem dem Erzähler ein Rätsel, eine Figur, die nichts werden, die in unerzählbarer Routine verschwinden möchte. An diesem Punkt weiß sich auch der Erzähler sich nicht mehr zu helfen, wendet sich seinerseits enttäuscht ab von seiner Figur, der nichts zukünftiges Mögliches und möglich Gewesenes mehr anzudichten ist: "Warum ist Singer die Hauptperson in diesem Roman? Und nicht nur die Hauptperson, sondern zugleich auch derjenige, um den sich alles dreht? (...) Ich würde mir wünschen, ich könnte etwas sagen, wozu Singers Gedanken nicht imstande sind. Etwas, das ich genau zu diesem Thema beisteuern könnte, aber meine Sprache reicht nicht aus. Meine Sprache endet dort, wo Singers Grübeleien enden. Dennoch sind wir nicht identisch."

In dieser Differenz zwischen Erzählenwollen und der undurchdringlichen Langeweile, Weltlosigkeit und Resignation Singers gewinnt Solstads Roman seine Anziehungskraft, aus diesem Zwiespalt entspinnt sich die sanfte Ironie dieser Erzählung eines unerzählbaren Lebens. Am Ende entlässt der Erzähler seine Figur in die selbst gewählte Freiheit resignativer Wunschlosigkeit. "Ohne Trauer oder Enttäuschung darüber, dass er der war, der er war, aber auch nicht mit großer Freude darüber, dass er der war, der er war" lebt Singer nun endlich sein Leben.

In einem Interview mit Alf van der Hagen hat Solstad Henrik Ibsens Dramen als "Referenzmodell" für sein literarisches Projekt bezeichnet. In der Tat lesen sich Solstads Romane als Variationen des berühmten Aphorismus aus Ibsens "Wildente": "Wenn Sie einem Durchschnittsmenschen seine Lebenslüge rauben, dann nehmen Sie ihm gleichzeitig sein Glück". In "T. Singer" liegt die Tragik darin, dass es dem Erzähler nicht gelingt, dem Protagonisten seine Lebenslüge zu nehmen. Singers private Utopie, die Immunisierung gegen die Welt, ihre Zufälle und Zumutungen, setzt sich durch. Mögliches und möglich Gewesenes, das, woraus Geschichte und Geschichten gemacht sind, widerstehen einem "Automatismus des Lebens". Eine Zukunft kann Singer sich in seiner Blase für sich und seine Stieftochter beim besten Willen nicht vorstellen. Solstads Roman ist eine Parabel über das Glück und Unglück eines unpolitischen Lebens, das scheinbare Ende aller Utopien in der Idylle der 1990er-Jahre, über radikale Wunsch- und Fantasielosigkeit.

Das Unbehagen des Erzählers angesichts eines solchen Rückzugs ins Private, ins Innere und Beschauliche, lässt sich aber nicht ignorieren. Solstad, der Singer einmal als Schatten seiner selbst bezeichnet hat, scheint dabei zu insistieren: Soll es das gewesen sei? Reicht ein solches Leben? Wie ist es möglich, so leben zu wollen?

Es ist die Frage eines Enttäuschten und dessen geheimer Hoffnung, aus der Verfehlung von Möglichkeiten und dem möglich Gewesenen doch noch eine Direktive für die Zukunft zu gewinnen. Nicht Eigentlichkeit zu wollen, sondern nach dem eigentlich Gewollten zu fragen, darin liegt das Potenzial von Enttäuschungen und der thematische Brennpunkt von Solstads Romanen über das Norwegen der Neunzigerjahre. Als begeisterter Leser bleibt nur zweierlei zu wünschen übrig: dass der kleine Zürcher Dörlemann-Verlag weitere Romane Solstads auf Deutsch zugänglich macht und dass Solstads eigene Quelle der Enttäuschung so schnell nicht versiegt.

Dag Solstad: T. Singer. Roman. Aus dem Norwegischen von Ina Kronenberger. Dörlemann Verlag, Zürich 2019. 280 Seiten, 22 Euro.

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