Manchmal reicht eine Drehtür, um der Wirklichkeit zu entkommen und in eine andere Welt einzutreten, die Welt der Grand Hotels. Dort wird noch Wert auf Äußerlichkeiten gelegt: gutes Benehmen, geputzte Schuhe, gebügelte Hemden, ein gewisser Stil beim Essen und Trinken sowie ein Bewusstsein für Hierarchien und, sehr wichtig, Diskretion. Also nahezu alles, was nach Ansicht von Kulturpessimisten gerade verloren geht.
Dass es jedoch hinter der Drehtür nicht immer mit rechten Dingen zugeht, dass diese altmodischen Glitzerorte nicht nur von Geschäftsleuten, Politikern und Künstlern, sondern auch von Spekulanten, Selbstdarstellern und Hochstaplern aufgesucht werden, zeigt bereits der Roman "Menschen im Hotel" von Vicki Baum aus dem Jahr 1929. Neunzig Jahre nach der ersten Auflage hat dieses Buch über die Verlorenheit der Hotelgäste, die sich für kurze Zeit gefährlich nahekommen und doch völlig fremd bleiben, nichts von seiner Faszination eingebüßt. Ein Grand Hotel ist auch ein Ort der großen Illusionen, der Täuschungen und Enttäuschungen.
Von dieser Sehnsucht nach dem Leben im Fünf-Sterne-Schimmer handelt auch der neue Roman "Ein Hummerleben" des norwegischen Autors Erik Fosnes Hansen. Nur dass hier die Perspektive genau umgekehrt ist: Die "Menschen im Hotel", das sind hier nicht die Gäste, sondern die Dienstleister. Schauplatz ist ein norwegisches Berghotel in den Achtzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts. Oslo ist weit weg, das einst so vornehme Haus Favnesheim befindet sich im Niedergang, die früheren Stammgäste sind entweder gestorben oder fliegen lieber ans Mittelmeer, zu den Bettenburgen von Benidorm. Nun ruhen alle Hoffnungen auf dem 13-jährigen Sedd, der als Enkel des Hoteldirektors in die Kunst der gehobenen Gastronomie eingeweiht wird.
Maßgeschneiderte "Hochzeitspakete" für Busreisegruppen enden meist im Besäufnis
Gleich im ersten Kapitel spürt er die Last der Verantwortung: Als der Bankdirektor Berge bei Tisch wegsackt und nur noch blubbernde Geräusche von sich gibt, springt ihm Sedd zur Seite, weil die Erwachsenen nicht reagieren. Als Mitglied beim Jugendrotkreuz weiß der frühreife Junge, wie eine Wiederbelebung funktioniert, aber das Training mit der Übungspuppe war doch angenehmer als die reale Mund-zu-Mund-Beatmung: "Er schmeckte schwach nach Rosinen und Kaffee, nach Kuchenteig und Zigaretten, und sein restlicher Atem traf meine Mundhöhle wie der Hauch eines ersterbenden Kamins." Im Grand Hotel lernt man eben nicht nur, wie man Gästen das Leben versüßt, manchmal muss man sogar Leben retten, auch wenn dieser Versuch leider gründlich schiefgeht.
Sedds Großvater, der Direktor Zacchariassen, verkörpert die morsch gewordene Grandezza, den Lebensstil einer vergangenen Epoche, der in Vicki Baums Berliner Grand Hotel selbstverständlich war. Mit allen Mitteln verteidigt er sein Potemkinsches Haus mit den 132 leeren Zimmern, dem ungenutzten Swimmingpool und der von Moos überzogenen Minigolfanlage, während die aus Wien stammende Großmutter auch dann noch ihre opulenten Mehlspeisen zubereitet, wenn gar keine Hochzeitsgesellschaft zu Gast ist. Maßgeschneiderte "Hochzeitspakete" für Busreisegruppen sind die letzte Einkommensquelle des Hotels. Meist enden sie in einem schrecklichen All-Inclusive-Besäufnis. Erfreulich ist die Flaute nur für die Hummer im Aquarium, denen ein siedend heißes Ende erspart bleibt - der Koch Jim, Sedds bester Freund und eine Art Ersatzvater, kann immer seltener sein Meeresfrüchte-Bufett zubereiten.
Der 1965 geborene Erik Fosnes Hansen, der mit "Choral am Ende der Reise" schon früh einen internationalen Bestseller hatte, erzählt die Geschichte dieses Niedergangs ganz aus der Sicht des 13-Jährigen. Ein blitzgescheiter Junge, der von Neugier getrieben ist. Und das Hotel birgt so einige Geheimnisse, weil sich der Großvater immer mehr der Wirklichkeit verweigert. Warum seine Tochter einst aus dem Hotel geflohen ist, als ihr Sohn Sedd noch sehr klein war, bleibt lange rätselhaft. Genauso wie die Frage nach Sedds Vater, einem indischen Arzt, der offenbar eine Schwäche für Norwegerinnen hatte. Und so wird aus Sedd, der Laufbursche, Küchenjunge, Putzhilfe und Gästebetreuer in einem ist, auch ein Kriminalist auf der Suche nach seiner Herkunft. Nur er selbst kann die Schweigemauer durchbrechen. Nur er kann die Melancholie überwinden, an der alle Menschen in diesem Hotel leiden wie Figuren in einem Ibsen-Stück: Immer die Contenance zu bewahren ist das Motto der Familie. Selbst in lebhaften Hotels herrscht ja oft eine große Einsamkeit, in diesem aber ganz besonders.
Sportangler aus Dortmund reisen mit einer gigantischen Ausrüstung an
Hansen ist ein warmherziger Erzähler mit einem Faible für Eigenbrötler. Eine der stärksten Passagen des Romans handelt von Sedds Versuch, endlich in den "Olymp" zu gelangen. So heißt ein verschlossenes Zimmer im oberen Stockwerk des Hotels, in dem der Junge die Tagebücher seiner Mutter vermutet oder zumindest einen Hinweis darauf, was mit ihr geschehen ist. Über Monate probiert er mit sämtlichen Schlüsseln, die er in die Finger bekommt, die Tür zu öffnen. Die Heimlichtuerei der Erwachsenen hat er längst übernommen: Die Zacchariassens sprechen über die wichtigen Dinge nur in Andeutungen, Nachfragen werden höflich ignoriert. Als die Großmutter Verdacht schöpft, weil sie Sedds Notizbuch mit den Schlüsselnummern gefunden hat, erweist sich der Junge als äußerst erfinderisch: Er versuche gerade, die Trachtenberg-Schnellrechenmethode zu lernen, daher die Zahlenkombinationen, behauptet Sedd. Das sei eben "ein raffiniertes System". Eine Beschreibung, die auch für das Lügengebäude zutrifft, in dem sich diese Menschen im Hotel immer tiefer verirren.
Nicht alles gelingt dem Autor so leicht wie die Hotelsaga. In den Nebensträngen der Erzählung wirkt Hansen manchmal etwas fahrig. Die Figur der selbstbewussten Karoline, die mit ihren Eltern bei den Zacchariassens absteigt und den etwas älteren Sedd gerne zum Freund hätte, bleibt schemenhaft. Dafür entschädigt die Episode mit den Sportanglern aus Dortmund, die mit einer gigantischen Ausrüstung in die wildromantische Fjell-Landschaft gereist sind und völlig abfahren auf urnorwegische Heimatlieder, selbst wenn sie komplett erfunden sind, Fake Romance sozusagen. Manchmal schimmert durch diese Verästelungen ein wenig von John Irvings Bestseller "Das Hotel New Hampshire" durch, nicht nur, wenn die Großmutter mal wieder davon träumt, sofort nach Wien aufzubrechen, was ihre persönliche Realitätsflucht darstellt.
Das "Land der Träume, des Wohlstands, des Glücks und der schönen Landschaften", wie es etwas klischeehaft in einer Mitteilung der Frankfurter Buchmesse über das Gastland Norwegen heißt, hat in diesem Roman einen düsteren Glamour, etwas Marodes, aber auch Erheiterndes. Und es ist wie bei vielen großen Hotels, die den Schein wahren wollen: Hinter der funkelnden Drehtür und frisch renovierten Lobby gibt es meist verborgene Winkel, in denen Menschen ihre Unschuld verlieren.