Süddeutsche Zeitung

Norwegische Literatur:Alles im Windeleimer

Kulturrevolutionär am Väterstammtisch: Karl Ove Knausgårds Essays "Das Amerika der Seele" zeigen, wofür er kämpft.

Von Christopher Schmidt

Der abschließende Essay in diesem Band, der Vorträge, Katalogtexte und Zeitungsbeiträge aus den Jahren 1996 bis 2013 von Karl Ove Knausgård versammelt, liest sich aus deutscher Sicht wie ein flammendes Plädoyer für die Beibehaltung der Verlegerbeteiligung an den Ausschüttungen der VG Wort, über die derzeit heftig gestritten wird. "Dorthin, wohin die Erzählung nicht kommt" lautet der Titel dieser Hommage Knausgårds an seinen Lektor, ohne den es seine Bücher, wie er schreibt, genauso wenig gäbe wie den Schriftsteller Karl Ove Knausgård. Denn sein Lektor müsse absolut alles von ihm lesen, bevor es veröffentlicht werde, "sogar den kleinsten Zeitungsartikel".

Den größten Beitrag leisteten Lektorat und Verlag aber zum Zustandekommen des autofiktionalen Romanprojekts "Min Kamp", dessen sechster und letzter Teil "Kämpfen" auf Deutsch im kommenden Frühjahr erscheint. Dieser Beitrag bestand vor allem in verlegerischer Risikobereitschaft. Immerhin schlug Knausgård damals bei seinem Verlag Oktober mit einem Konvolut von zwölfhundert Manuskriptseiten auf, aus dem dann die ersten beiden Bände hervorgingen, sowie dem Kamikaze-Vorschlag, fortlaufend vier weitere Romane für den Herbst und das Frühjahr zu liefern - alle drei Monate einen, und das, nachdem ihn zuvor eine Schreibblockade fünf Jahre lang lahmgelegt hatte. Thema des Ganzen sollte nichts anderes sein als das eigene Leben des Autors.

Das Bild vom einsamen Schöpfer, vermeintliches Kennzeichen des Originalgenies, weist Knausgård für sich selbst ebenso zurück wie die Vorstellung, dass literarisches Schreiben etwas mit Handwerk zu tun habe. Beim Schreiben gebe es keine Techniken, die eingeübt werden könnten, "Fehler zu machen" sei vielmehr das Ziel, der Mut zum Scheitern.

Knausgård-Leser erfahren hier, so unterschiedlich die Gegenstände seiner Betrachtungen auch sind, eine Menge über den Entstehungsprozess des monomanischen literarischen Selfies, das den Autor weltberühmt gemacht hat. Es sollen ja überwiegend männliche Leser sein, denen die Knausgård-Exegese ein Stecken und Stab ist, an dem sie ihr von Elternzeit, Frondienst am Windeleimer und als Gängelei empfundenen Diversitäts-Zumutungen gebeugtes Ego aufzurichten suchen. In ihm sehen sie einen Leidensgenossen domestizierter Männlichkeit. Knausgård ist der Schmerzensmann am Väterstammtisch seines gekränkten Geschlechts, einer, der - im Essay über die Fotokünstlerin Francesca Woodman - einfach mal einen Satz raushaut wie diesen: "Dieses Frauenzeug, das mir direkt ins Gesicht geschleudert wurde, ging mir auf die Nerven."

Die Essays aber enttäuschen die Erwartung, dass seine Romane so formlos und unmittelbar aus ihm herausbluten wie aus einer offenen Wunde. Karl Ove Knausgård ist sich des konstruktiven Moments, der Literarizität seines Erzählexperiments offenbar klar bewusst. Über die Sehnsucht nach Wirklichkeit, die David Shields in seinem Buch "Reality Hunger" beschreibt, heißt es: "Wir alle kennen diese Sehnsucht, wir wollen das Echte, wir wollen das Authentische, wir wollen die Welt zurück. Das aber geht nicht, denn wir wissen, dass das Ursprüngliche auch nur eine Vorstellung ist, nicht wirklicher als ein Traum."

Bei keinem anderen Autor vergießt ein Ich-Erzähler so viele Tränen wie bei Knausgård. Seine Romane sind nah am Wasser gebaut, und doch geht es ihm nicht um einen neuen Kult der Empfindsamkeit, sondern um den Beweis, "dass ich tatsächlich schreiben und nicht nur fühlen konnte". Und dabei sei der wichtigste Abstand "der zwischen dem ,ich' und demjenigen, der ,ich' schreibt."

Das klingt nach Haftungsausschluss, und bisweilen dient die Form des Essays ihm schon auch als Disclaimer. Insbesondere mit den Standpunkten, die sein Alter Ego in den Romanen vertritt, möchte der Autor Knausgård nicht identifiziert werden. In den schwedischen Medien wurde "Min Kamp" als misogyn und "intimfaschistisch" kritisiert und er selbst mit dem Massenmörder Anders Breivik verglichen. Sein bekanntester Essay handelt von Breivik, in dessen Identitätsideologie Knausgård tatsächlich so etwas wie ein monströses Zerrbild seiner selbst erkennt. "Heute war nicht mehr der einzigartige Mensch das Ideal, sondern der gleiche, und nicht die einzigartige Kunst, sondern die multikulturelle, so dass alle Museen ( . . . ) im Grunde Museen von Museen waren", schreibt er fast schon pegidistisch im Roman "Lieben".

Wie in fast allen anderen Bänden ist auch dort das Fleisch des Erzählens von dicken Knorpelschichten kulturkritischer Reflexion durchzogen. Obwohl er in den Essays nie so deutlich wird wie in den Romanen, heißt es einmal: "Ich selbst bin, das habe ich in den letzten paar Jahren eingesehen, bis ins Mark reaktionär." Knausgård beklagt die lähmende "neomoralische Welle", die universelle "Gleichheitsideologie, die im Grunde eine Geldideologie ist". Alles sei heute egalitär und damit alles egal. Es gibt eine starke Ordo-Sehnsucht bei ihm, nach dem Absoluten, Nicht-Relativen, Nicht-Verhandelbaren.

Wie übersetzt man die Bibel neu, ohne dass es gleich nach Hemingway klingt?

Daher rührt auch sein Widerwille gegen die Populärkultur. Das kollektive Wir sei entwertet, es habe sich in sein Gegenteil verkehrt, in etwas, in dem Identität verschwinde. Es sei von einem Trost zu einer Bedrohung geworden. Am prägnantesten kommt diese Haltung in dem Essay "Bibelhelfer" zum Ausdruck. Knausgård arbeitet beratend mit an einer neuen Bibelübersetzung und stellt fest, dass es unmöglich ist, eine neue Sprachgestalt zu finden, die anschlussfähig sei, aber darum nicht gleich nach Hemingway klinge. Denn das Populäre sei heute korrumpiert durch den Mainstream, der Sphäre des Konsums und der Betäubung verfallen.

Aus diesem Unbehagen an der Moderne, das immer schon integraler Bestandteil der Moderne war, speist sich Knausgårds agonaler, bilderstürmerischer und, so könnte man sagen, neo-vitalistischer Kunstbegriff. "Damit Literatur entstehen kann, muss das Markante in Thematik und Stil niedergerissen werden. Dieses Niederreißen ist es, was man ,schreiben' nennt", dekretiert er im Roman "Sterben". "Beim Schreiben geht es eher ums Zerstören als ums Erschaffen." In den Essays charakterisiert er sein ästhetisches Programm dialektisch, als "Bekämpfung der Fiktion mit Fiktion".

In Knut Hamsun, für Knausgård eine Portalfigur seiner literarischen Sozialisation, erkennt er einen frühen Chronisten der Massengesellschaft, "einer schäbigen Moderne, einer Mitten-in-der-Welt-Moderne im Zeichen von Entwurzelung, Raubbau, Fortschritt", unbehaust in einem "Amerika der Seele", das der Nihilist Hamsun zu seiner Zeit beschrieb. Und in seinem Text "Der braune Schwanz" spitzt er die Kritik an einer Gesellschaft, die ihren Zwangscharakter verschleiere, provokativ zu, indem er ungeniert über seinen Ausscheidungsvorgang berichtet, das Intimste also demonstrativ öffentlich macht. Aufschlussreicher als sein körperlicher Stoffwechsel ist allerdings sein intellektueller Metabolismus. Denn nicht nur in seinen Romanen, sondern auch in seinen Essays erweist sich Karl Ove Knausgård vor allem als Porträtist seiner selbst. Ein gelegentlich etwas verquerer Prophet des Weltuntergangs im Windeleimer.

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Quelle:
SZ vom 29.11.2016
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