Norbert Scheuer: "Mutabor":Die Welt ist alles, was in Kall ist

Norbert Scheuer: "Mutabor": Norbert Scheuers Romane sind still, besonders und kommen erst langsam im Literaturbetrieb an. Mit "Winterbienen" war er 2019 auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises und wurde mit dem Wilhelm-Raabe-Preis ausgezeichnet.

Norbert Scheuers Romane sind still, besonders und kommen erst langsam im Literaturbetrieb an. Mit "Winterbienen" war er 2019 auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises und wurde mit dem Wilhelm-Raabe-Preis ausgezeichnet.

(Foto: Elvira Scheuer/privat)

In Kall in der Eifel spiegelt sich in Norbert Scheuers Romanen das ganze Universum. Im neunten, "Mutabor", drängt die Gewalt der Ortsgemeinschaft gegen ein verwaistes Mädchen an die Oberfläche.

Von Marie Schmidt

Der merkwürdigste Kraftort der deutschen Literatur ist die Cafeteria eines Kleinstadt-Supermarktes. Man hat sie gleich vor Augen, billige Sessel, niedrige Tische, ein goldgerahmter Spiegel, ein Fernseher, auf dem stumm n-tv läuft. Den Auftritt der Stammgäste dort beschreibt Norbert Scheuer in seinen Büchern immer ähnlich: "Sie tragen Cordhosen, karierte Kurzarmhemden, fusselige Strickjacken, Kappen mit dem Emblem ihres Fußballclubs oder der Firma, bei der sie früher gearbeitet haben. Die meisten waren ihr ganzes Arbeitsleben bei einer einzigen Firma angestellt, entweder im Fertigbetonwerk von Milz, dem schon seit Jahren geschlossenen Lafarge-Zementwerk oder der Gemeinde." Morgens um zehn parken die alten Männer vor der Tür, setzen sich so, dass sie ihre Autos im Blick behalten können, die Einkäufer und Kassiererinnen, überhaupt den ganzen Ort.

Der soziale Realismus dieser Szene kontrastiert mit der epischen Wucht, die aus ihrer Wiederholung entsteht und dem Umstand, dass die Gemeinde Kall in der Eifel, wo der Supermarkt steht, in Norbert Scheuers literarischem Werk jeweils in der Mitte des deutschen Geschichtsraums, des globalen Mythenschatzes, des Universums zu liegen scheint: ein Pars pro toto für alles, was es auf der Welt gibt. Scheuers Romane, bisher neun, spielen alle in Kall, wo der Schriftsteller auch lebt, haben zumindest ihren Ursprung dort oder führen dahin zurück. Immer geht es darum, ins Wirklichkeitsgewebe des Provinznests Kall mehr Fäden einzuziehen, es dichter zu machen und mit den großen Menschheitserzählungen zu verknüpfen.

Sein Arbeitsleben hat Norbert Scheuer bei der Telekom als Programmierer verbracht und erst spät aus dem Schreiben seine Hauptbeschäftigung gemacht. Mit welcher Geduld er die Dimensionen seiner Kleinstadt ausmisst, riesig und winzig werden lässt, das wird mit jedem seiner Eifel-Romane eindrucksvoller. Einzeln wirken seine Bücher schmal, bescheiden, eingesponnen in ihre besonderen Interessen und Perspektiven. Zusammen erschließen sie einen enormen erzählerischen Kosmos. Ohne Thesenhaftigkeit, ganz unmodisch im Stil, probiert Scheuers Gesamtkunstwerk aus, wie sich die Bedeutung des Nahen, Partikularen, Provinziellen auf einem schrumpfenden Globus verformt.

Norbert Scheuer: "Mutabor": Heimelig oder bedrohlich? Die Gemeinschaft der Bewohner von Kall spielt die Hauptrolle in allen Romanen von Norbert Scheuer.

Heimelig oder bedrohlich? Die Gemeinschaft der Bewohner von Kall spielt die Hauptrolle in allen Romanen von Norbert Scheuer.

(Foto: Ralf Roeger/picture alliance / dpa)

Im alltäglich Vertrauten wachsen in seiner Welt mächtige mythische Instanzen. Die alten Männer im Supermarktcafé zum Beispiel, von denen scheinbar immer einer dabei war, wenn in der Umgebung etwas passiert, sehen alles, wissen alles. Sie sind, wie es im neuesten Kall-Roman "Mutabor" offen heißt, "so etwas wie der antike Chor, der im Hintergrund alles kommentiert, alles erklärt, Licht ins Dunkel bringt und doch vieles von dem verheimlicht, was er weiß". Tatsächlich stehen die "Grauköpfe" diesmal eher für das mutwillige Beschweigen gewalttätiger Geheimnisse.

Flehend steht die Hauptfigur und Ich-Erzählerin Nina Plisson vor diesem allwissenden Kollektiv und bittet um ihre eigene Geschichte: An ihre Mutter hat sie nur schemenhafte Erinnerungen, wer der Vater war, weiß sie nicht, kennt nur ein Foto, das im Wirtshaus am Ort hängt, von einem Mann auf einem Pferd, dessen Gesicht jemand abgekratzt hat. Auf der Rückseite mit Bleistift notiert, das Wort "Mutabor". Nina sucht nach einer Herkunft, die eine ganze Kleinstadt vor ihr verbergen will. Leser von Scheuers früheren Büchern gehören unwillkürlich dazu, glauben mehr über das Mädchen zu wissen als sie selbst. Sie kam ja in früheren Büchern schon vor.

Dann liest man nach und ist nicht mehr sicher: Sie hieß doch in "Am Grund des Universums" von 2017 noch Plission, hat also ein "i" verloren, genau wie den imaginären Bruder, den sie immer hinter sich herzog und jetzt offenbar fast vergessen hat. Solche Anschlussfehler können Scheuer unmöglich unterlaufen sein, eher vernebelt er mit winzigen Verschiebungen spitzfindigen Lesern die Orientierung.

Die Dichte der Märchen und Mythen in diesem Roman fällt stark aus dem Rahmen

Im Hintergrund des dörflichen Schweigens baut sich in "Mutabor" allmählich eine Genealogie auf, in der Nina mit vielen bedeutenden Figuren aus Scheuers Romanen irgendwie verwandt ist. Trotzdem wirkt sie wie der verlorenste Mensch der Welt. Von Mutter und Vater verlassen, von der Großmutter, die sie aufzieht, abgelehnt, aus zwielichtigen Motiven aufgenommen von einer pensionierten Lehrerin und einem griechischen Wirt, verliebt in einen Jungen, der sie kaum wahrnimmt.

Sie ist, um es in einer Sprache zu sagen, die nicht Scheuers ist, einer jener infamen Menschen, die Gesellschaften als störend, unpassend, gefährlich ausschließen: Versehrt und schutzlos, wie sie ist, schiebt die Gemeinschaft sie an den Rand, und da zieht sie erst recht die untergründige Gewalt des Kollektivs an. In ihrer Geschichte, die sie sich Stück für Stück zusammensetzt, enthüllt sich eine Kette von Missbrauchsereignissen, von der Gruppenvergewaltigung nach einem Volksfest bis zur Urszene, in der das kleine Mädchen Nina mehrmals so etwas wie die eigene Zeugung beobachtet: "Erstarrt und fast betäubt lausche ich den Dingen, die niemand wirklich zu hören vermag, ohne davon betört, verstört oder verzaubert zu sein, die, wenn überhaupt, nur blind und gefesselt zu ertragen sind."

Wie viele Ausgestoßenen hat Nina einen direkten Draht zum Übersinnlichen. Aus den Tintenklecksen in ihren Schulheften entstehen fantastische Geschichten in ihrem Kopf. Norbert Scheuers Sohn Erasmus Scheuer hat diese Zeichnungen dem Buch als nonverbale Geheimnisträger hinzugefügt. Auf Bierdeckeln in der Kneipe, in der sie manchmal aushilft, findet Nina Miniaturen einer eklektischen Mythensphäre, die ihre Geschichte spiegelt. Ihr Gegenüber ist eine vergessene Tochter der Medusa, die Scheuer erfunden hat: Zoe, die wie Pegasos und der Held Chrysaor dem Hals der enthaupteten Gorgone entsprungen sei.

Und anders als die Figuren im Märchen von "Kalif Storch", das ihr der Großvater erzählt, vergisst Nina das Zauberwort "Mutabor" im entscheidenden Moment nicht - auch wenn es in Kall, Nordrhein-Westfalen, womöglich nicht immer wirkt.

Norbert Scheuer: "Mutabor": Norbert Scheuer: Mutabor. Roman. C.H. Beck, München 2022. 191 Seiten, 24 Euro.

Norbert Scheuer: Mutabor. Roman. C.H. Beck, München 2022. 191 Seiten, 24 Euro.

In der Reihe von Scheuers Romanen fällt die Dichte der Märchen und Mythen in diesem stark aus dem Rahmen. Und so sehr er damit die kleine Welt von Kall ins anthropologisch Allgemeine weitet, so sehr kommen sie einem auch wie Zeichen der Verdrängung vor: Sie hüllen die Gewalt und konstante Bedrohung ein, die das Leben inmitten der ganzen Supermarkt-Normalität für Nina mit sich bringt. Nackt und schlicht wäre die zu grässlich anzuschauen.

Am Ende kehrt auch das Hochwasser wieder, das schon in Scheuers früheren Romanen vorkam und sich im Sommer 2021 in Wirklichkeit noch einmal ereignet hat, auch in Kall. Norbert Scheuer hat in der SZ berichtet, wie die unbarmherzigen Fluten Autos, Gastanks, ganze Geschäfte forttrieben, eine unheimliche Verwirklichung seiner Geschichten. Wie dann aber die Menschen am Ort zusammengeholfen haben, um aufzuräumen. In seinen Romanen wirkt auch das wie eine Metapher des Unterbewussten: Wie die Dinge des Alltags weggeschwemmt, als eine Schicht von Schrott abgetragen werden und das ein oder andere Vergessene dabei an die Oberfläche steigt.

Manche Heldinnen und Figuren in Scheuers Welt gibt das Ökosystem Kall aber gerade nach solchen Katastrophen frei. Sie verlassen den Ort, der in dieser Literatur die Welt bedeutet. Nina zum Beispiel. Damit ist die Hoffnung erlaubt, dass es für sie auch jenseits dieser mythischen Dorf- und Schicksalsgemeinschaft weitergeht.

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