Norbert Miller: "Die künstlichen Paradiese":Summe eines Gelehrtenlebens

Norbert Miller: "Die künstlichen Paradiese": Im Elfenbeinturm der Fantasie: Haschischraucherinnen auf dem Gemälde des italienischen Malers Gaetano Previati von 1887.

Im Elfenbeinturm der Fantasie: Haschischraucherinnen auf dem Gemälde des italienischen Malers Gaetano Previati von 1887.

(Foto: imago/Leemage)

Norbert Miller erzählt, wie europäische Dichter in den Reichen der Fantasie und des Rausches zusammenkamen.

Von Jens-Malte Fischer

Als Charles Baudelaire 1860 mit seinem Verleger eine Ausgabe seiner Werke aushandelte, sollte der erste Band natürlich sein berühmtestes Werk, die "Fleurs du Mal" enthalten. Der zweite Band war projektiert als eine Sammlung seiner Essays unter anderem über Delacroix, Thomas De Quincey und Edgar Allan Poe. Dieser Band erschien noch zu Lebzeiten von Baudelaire und trug den Titel "Les paradis artificiels. Opium et Haschisch". Es ist der erste Teil dieses Titels, der dem großen Buch des Literaturwissenschaftlers Norbert Miller, dem Resumée eines Gelehrtenlebens, die Überschrift gibt.

Der zweite Teil von Baudelaires Titel verweist darauf, dass speziell Autoren des 19. Jahrhunderts Stimulanzien der Fantasie und der Imagination für äußerst förderlich hielten. In einer früheren Version steht dort statt Opium "Wein" - eine Steigerung der Intensität war sozusagen eingebaut. In einem seiner berühmtesten Gedichte "Einladung zur Reise" animiert Baudelaire, der selbst nur einmal als junger Mann Paris und Nordfrankreich verlassen hat, seine Leser mit ihm in eine Gegend zu ziehen, wo alles Ordnung und Schönheit, Ruhe, Sinnlichkeit und Wohlgefühl ist, ein Gedicht, das von Henri Duparc hinreißend vertont wurde.

Miller nimmt sich elf Dichter des 18. und 19. Jahrhunderts vor, die, wie er einleitend sagt, sich mit ihrem Schreiben Kindheitswelten nachschufen, ganze Biografien erfanden, sich in Gemälde, Gärten und Landschaften hineinfantasierten, außerdem Alltagsszenen mit dem Prisma des Kuriosen bündelten, waffenlose Utopien entwickelten, sich kurz gesagt einen Elfenbeinturm der Fantasie und des Wundersamen schufen.

Miller kehrt zu einem Grundmotiv seiner Forschungen und zu Jean Paul zurück

Das Buch beginnt mit Restif de La Bretonne, jenem französischen Erzähler des 18. Jahrhunderts, der, angeregt durch den gewaltigen Erfolg der Version der "Märchen aus 1001 Nacht" des Orientalisten Antoine Galland sich entschloss, das Märchenhafte des Orients in den Nächten von Paris zu suchen, ein Flaneur, lange vor Walter Benjamin. Ihm folgt Jean Paul. Mit diesem Kapitel begibt sich Norbert Miller zurück an die Anfänge seiner literaturwissenschaftlichen Laufbahn.

Vor rund 60 Jahren hatte er zusammen mit Walter Höllerer begonnen, die bis heute gültige Leseausgabe des Genies aus dem Fichtelgebirge zu erarbeiten. Manche halten Jean Paul immer noch unbeirrt für den größten deutschen Erzähler, weil er es fertigbrachte, mit einer Sprachkraft und Fantasieeruption sondergleichen eine zweite Welt abseits der Banalität der ersten zu entwerfen. Seine Traumbilder haben nicht nur den Surrealismus beeinflusst. Gerade der Fall Jean Paul zeigt eine der großen Stärken dieses Buches: Miller hat wie Jean Pauls Luftschiffer Giannozzo einen ebenso staunens- wie bewundernswerten Überblick über die europäische Kultur der letzten Jahrhunderte, über die Literatur, aber auch über die bildende Kunst, die Architektur, die Gartenkunst und die Musik dieser Epochen geschaffen. Und so kann er wie kein anderer zeigen, wie sehr ineinander verflochten gerade die europäische Literatur ist, wenn man sie unter die Lupe dieses Themas nimmt.

Dass E.T.A. Hoffmann in Frankreich einen erstaunlichen Erfolg hatte, ist bekannt, bis hin zu Jacques Offenbachs Meisteroper. Dass aber auch der eigentlich ziemlich schwer zu übersetzende Jean Paul in Frankreich erhebliche Wirkung gehabt hat, dass wiederum Edgar Allan Poe und De Quincey vor allem auf die französische Literatur einwirkten, nicht nur auf Baudelaire, dass Charles Nodier und Gérard de Nerval ohne die Anregungen aus Deutschland und Frankreich kaum ihre Fantasiewelten erschaffen hätten - dies macht das Buch auf eindrückliche Weise deutlich. Alle wesentlichen Zitate werden zweisprachig dargeboten. In diesem Sinne ist es ein komparatistisch angelegtes Buch, das aber keineswegs nur spezielle Literaturwissenschaft ist, sondern jedem Leser ein funkelndes Beziehungsnetz überstülpen kann, das kaum als Einengung empfunden werden wird, sondern als bereichernde Blickschärfung.

Norbert Miller: "Die künstlichen Paradiese": Norbert Miller: Die künstlichen Paradiese. Literarische Schöpfung aus Traum, Phantasie und Droge. Wallstein, Göttingen 2022. 887 Seiten, 48 Euro.

Norbert Miller: Die künstlichen Paradiese. Literarische Schöpfung aus Traum, Phantasie und Droge. Wallstein, Göttingen 2022. 887 Seiten, 48 Euro.

(Foto: Wallstein Verlag)

Dem deutschen Leser begegnen hier auch Autoren, die bei uns keineswegs so bekannt sind wie Hoffmann, Mörike, Stifter und Baudelaire. Schon Jean Paul ist kein Autor mehr, der zum Selbstverständlichen gehört. Samuel Taylor Coleridge und sein Freund Wordsworth sind es weit weniger. Mit welcher Sicherheit hatte Orson Welles noch in seinem Film-Meisterwerk "Citizen Kane" Coleridges Ballade von Kubla Khan zitiert, in der der Traum von Xanadu heraufbeschworen wurde.

Meisterhaft, wie Miller E. T. A. Hoffmanns doppelte Wirklichkeit in seinen Märchen beleuchtet, subtil, wie er nachweisen kann, dass auch Mörike, mit dem man in diesem Zusammenhang vielleicht zunächst nicht rechnen würde, mit seinem ferne leuchtenden Orplid in dieses Buch gehört. Neugierig macht Miller auf Charles Nodier, den unendlich belesenen Büchermenschen, der wie kein anderer Franzose seinerzeit die englische Schauer-Phantastik rezipiert hat.

Edgar Allan Poe, der einzige amerikanische Autor in Millers Panorama, erweist sich als gerade in der europäischen Literatur eminent einflussreicher Erzähler einer Fantastik, entstanden aus kühler Rationalität. Manche Leser werden sich aber dann doch vielleicht wundern, dass Adalbert Stifter mit dem "Nachsommer" hier behandelt wird. Norbert Miller ist natürlich auf diese Verwunderung eingestellt und sucht sie mit seiner ganzen Überzeugungskraft und Beredsamkeit zu entkräften. Einige Leser werden es dennoch mit Arno Schmidt halten, der meinte, dass es Stifter im "Nachsommer" gelungen war, der deutschen Sprache ein Optimum an Eintönigkeit abzugewinnen.

Und schließlich das krönende Schlusskapitel über Baudelaire, dann doch der maßgebliche Autor der künstlichen Paradiese in Theorie und Praxis, ein Kapitel, das diesem großartigen Buch, das man durchaus auch ohne den begleitenden Genuss von anregenden Stimulanzien lesen kann, einen beeindruckenden Abschluss verleiht. Ob man dieses umfassende Spätwerk nun als ein Opus bezeichnet, das als "magnum" oder "summum" einzuschätzen ist, bleibt Nebensache. Selbst, wenn man glaubt, sich hie und da ein wenig auszukennen, kann man von diesem Buch, einer Schatztruhe und Wunderkammer der Fantasie, nur bereichert werden und aus ihm lernen.

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