Norbert Gstrein: "Vier Tage, drei Nächte":Du traust dich nicht

Norbert Gstrein: "Vier Tage, drei Nächte": Es häufen sich Konjunktive, Passivkonstruktionen und komplexe Zeitformen: Der in Tirol geborene Schriftsteller Norbert Gstrein.

Es häufen sich Konjunktive, Passivkonstruktionen und komplexe Zeitformen: Der in Tirol geborene Schriftsteller Norbert Gstrein.

(Foto: Sebastian Gollnow/picture alliance/dpa POOL)

Die Welt ist nichts als Fiktion? Allmählich spinnt sich der Schriftsteller Norbert Gstrein völlig in Selbstbezüglichkeit ein. Womöglich auch ein Symptom der Gegenwart.

Von Hubert Winkels

"Keine Angst, der will ja nur spielen", möchte man den Lesern der jüngsten Romane von Norbert Gstrein zurufen. Die Texte tanzen über Abgründe, sind mit meist weiblichen Leichen ornamentiert, vermischen schlimmen Zufall mit böser Absicht und rufen ins grausige Getöse immer mal wieder einen fröhlichen Disclaimer hinein, so etwas wie: Das ist ja nur ein Diskurseffekt, also dahergesagt, von einer Figur erzählt, unterstellt, übertrieben.

Man neigt dazu, die Kautelen der ewigen Ich-Erzähler in Gstreins Büchern zu akzeptieren, ja sie literarisch zu nobilitieren beim Lesen: Was da aufregt und erklärend besänftigt wird auf jeder Seite, sei nur Effekt eines sich steigernden und verzweigenden Missverstehens, einer überspannten Sprach- und Erzählreflexion, die mit einer bekannten Realität zu verwechseln gar nicht erst nahegelegt wird. So kennen wir Norbert Gstrein schon immer, manchmal war trotzdem der historische Stoff interessant, wie in den "Englischen Jahren" zum Beispiel über eine gestohlene jüdische Biografie im und nach dem Zweiten Weltkrieg oder in seinen Romanen zu den jugoslawischen Zerfallskriegen.

Spätestens mit den jüngsten Büchern "Als ich jung war" und "Der zweite Jakob" hat Norbert Gstrein die sprachliche Effektproduktion merklich gesteigert. Im neuen Roman "Vier Tage, drei Nächte" erzeugt ein dauerkommunizierendes Ensemble dreier vom sexuellen Begehren schwer versehrter Spielfiguren einen alles umfassenden Raum semantischer Uneindeutigkeiten. Es gibt keine Tatsachen, nur Gerede. Wahrscheinlich gibt es überhaupt nur einen Redefluss, der mehrere psychosexuelle Abspaltungen mit Eigennamen produziert.

Böse Taten werden indirekt begangen, andere immer subtiler zu Opfern gemacht

Der Erzähler Elias, ein noch junger Nichtsnutz, bringt seine lebenslange Fantasiegeliebte Ines hervor und macht sie gleich zu seiner Schwester, sodass wir es mit einem Inzestroman zu tun haben. Um sich zu vergnügen, rekrutieren beide dritte Mitspieler, deren Begehren sie herausfordern, um sie in toxischer Abhängigkeit foltern zu können. Oder sie zu doppelten Liebhabern zu machen. Oder sie umzubringen.

Doch so klar ist das nie. Tatsachen sind nämlich nur Fiktionen mit geheimem Bauplan, und Romane sind Systeme zur Erzeugung von Uneindeutigkeit; womit sie die allgemeine kommunikative Praxis spiegeln sollen, die sich mittels Systemen des Falschverstehens verständigt. Das ist jedenfalls das ästhetische Programm von Norbert Gstrein. Nehmen wir ein einfaches Beispiel, einen frühen, na ja, Mord. Der pubertäre Marcel Fichtner reist mit seinen Eltern ins Skihotel des reichen Vaters der Geschwister. Er begehrt Ines, teilt mit ihr den Sesselliftbügel, wie es der eifersüchtige Elias erzählt. Der räsoniert nach Marcels tödlichem Unfall: "Wir hatten damals an der steilsten Stelle der Piste, direkt entlang der Lifttrasse eine Schussstrecke für unsere Abfahrten gehabt, zweihundert Meter, bretthart präpariert, die einen beim kleinsten Fehler zerreißen konnte, und es war gar kein so großes Rätsel, warum der junge Fichtner geglaubt hatte, es uns nachtun und sich dort hinunterstürzen zu müssen, obwohl er keine acht Tage auf Skiern im Jahr hatte. Ich hatte in Ines' Gegenwart zu ihm gesagt 'Du traust dich nicht', sie hatte herausfordernd gelacht, und er hatte...es dann allein versucht."

Noch könnte das der Beginn einer "Natural Born Killers"-Geschichte sein. Doch die Erzeugung von Liebhabern und Opfern wird immer subtiler, die Undurchsichtigkeit des Tathergangs stärker, weil die psychologische Distanzierung mehr und mehr in eine sprachliche übergeht. Es häufen sich die Konjunktive und Passivkonstruktionen, Modalwörter und komplexe Zeitformen wie das Futur zwei. In solchen Satzkonstruktionen geht alle semantische Stabilität und psychologische Gewissheit verloren.

Von plausibler Handlung kann so wenig die Rede sein wie von greifbaren Akteuren

Schon in den beiden Vorgängerromanen war zwischen einem Fotografieren am Abgrund und dem Herbeiführen eines tödlichen Absturzes nicht zu unterscheiden. Die sprachlichen Elaborate, die sich über das wölben, was man das factum brutum nennen möchte, nämlich den toten menschlichen Körper, werden jetzt immer waghalsiger. Das Reale löst sich in einem Konstrukt der Zeichen auf. Man spielt Scrabble im Roman, liest historische Liebesbriefe von unbekannten Lyrikern aus den Fünfzigerjahren, stilisiert sich - in Corona-Zeiten - zur Gruppe nobler Pestfliehender in Boccaccios "Decamerone". Eine schreibt einen Roman, liest draus vor, bis das Wiedererkennen in Hass mündet; einer veröffentlicht eine Kurzgeschichte, die die anderen tödlich aufbringt; man lässt intime Telefonate mithören, reicht den Hörer weiter und manchmal damit auch gleich den Liebhaber, und wie zum Hohn schlägt man einem mit Kieferbruch stumm gemachten Verehrer vor dessen kleinen Kindern noch einmal heftig ins Gesicht (will da einer aussteigen aus dem Liebes- und Redespiel?).

Am Ende dieser Kette des perversen Begehrens wird man lesend nur noch über das Zeichenspiel räsonieren; von plausibler Handlung kann so wenig die Rede sein wie von greifbaren Akteuren. Norbert Gstrein schreibt endgültig eine kommunikationstheoretische Abhandlung in Romanform, die als schöne Literatur betrachtet, wenn überhaupt, durch ihre Überinszenierung und trotzige Redundanz beeindruckt.

Norbert Gstrein: "Vier Tage, drei Nächte": Norbert Gstrein: Vier Tage, drei Nächte. Roman. Hanser, München 2022. 353 Seiten, 26 Euro.

Norbert Gstrein: Vier Tage, drei Nächte. Roman. Hanser, München 2022. 353 Seiten, 26 Euro.

Dem langjährigen Leser Gstreins kommt es manchmal vor, als ob dieser sich in einer paradoxen Intervention aus dem Zwang der Selbstbezüglichkeit befreien wolle: nicht indem er zu einem halbwegs nachvollziehbaren Plot zurückkommt, sondern indem er die Selbstreferenz steigert, die Romanwelt endogam abschließt, sie inzestuös verdichtet - inhaltlich gespiegelt in lauter inzestuösen Beziehungen. Inzest ist Ausschluss. Er geht also nicht hinaus in die Welt, sondern verdichtet sie mittels sprachlich-sexueller Anziehungskraft zu einem Punkt, an dem idealerweise alles mit allem zusammenfällt.

Elias und insbesondere Ines neigen dazu, weitere Liebespartner anzulocken, sie mit der Macht der intellektuellen Arroganz abhängig zu machen, und der Leser wird das Gefühl nicht los, seine Deutungsanstrengungen seien bereits Teil dieses sado-masochistischen Settings. Vor allem Elias schraubt sich jeweils in den Nebenbuhler hinein und teilt mit ihm vollständig alle Neurosen und Sehnsüchte; oder er übernimmt ihn gleich als Liebhaber von der Schwester, die das still genießen kann.

So haben wir zum Beispiel in Moritz und Carl zwei starke bipolare Liebhaber, in Ulrich und dem 'schockverliebten Schriftsteller' zwei sadistisch malträtierte Schwächlinge, die seelisch und physisch vom entrückten Paar gefoltert werden. Es gibt keinen Ausweg. Doch da alle Figuren zwanghaft alles erzählen, lesen wir auch von einer stummen weiteren Halbschwester des inzestuösen Paares namens Emma, die "drüben, jenseits der Grenze" lebt; gemeint ist das "welsche" Italien jenseits Tirols, doch wir übersetzen: außerhalb des Romans. Man kann eine Reminiszenz an den sprachlosen, doch viel besprochenen Jakob darin sehen, die zentrale Figur in Norbert Gstreins Erstling "Einer" von 1988, der, während man noch von ihm spricht, schon in die Psychiatrie verbracht wird.

So viele Selbstreferenzen hat es in Norbert Gstreins gutem Dutzend Romanen und langen Erzählungen noch nicht gegeben. Man sollte einen Gstrein-Grundkurs hinter sich haben, um Vergnügen an der Lektüre zu finden. Doch selbst dann wird man sich an der Indifferenz stören, die aus der Gleichförmigkeit der Mittel folgt. Nur ganz am Ende des Romans lauert ein kurzer irritierender Absturz in den trivialen Diskurs. Da rückt Gstrein plötzlich Homophobie und Rassismus in ihren zeitgenössischen Verdachtsgestalten in den Mittelpunkt. Diese rumpelnd modische Auseinandersetzung mit der Gegenwart ist so heikel, dass ein Kurzkapitel auf Englisch verfasst ist. Man fühlt sich kurz gefoppt ob der gespielten Tragik in der wohlfeilen Empörung. Doch schon springen die Betroffenen wieder nackt gemeinsam ins Wasser. Es schließt sich über ihren Körpern - ein Schlussbild der fortdauernden Gleichgültigkeit.

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