Nobelpreisträger:Wie ich Schriftsteller wurde

Orhan Pamuk schreibt, warum man in Istanbul als Künstler nicht überleben kann - und weshalb er dieses Wagnis trotzdem eingegangen ist.

Orhan Pamuk

Jahrelang saß meine Mutter abends allein im Wohnzimmer und wartete auf meinen Vater, der nach dem Bridgeclub meist noch woanders hinging und erst sehr spät nach Hause kam, wenn meine Mutter schon längst resigniert zu Bett gegangen war.

Nobelpreisträger: Literatur-Nobelpreisträger Orhan Pamuk schreibt für die SZ auf, wie alles angefangen hat.

Literatur-Nobelpreisträger Orhan Pamuk schreibt für die SZ auf, wie alles angefangen hat.

(Foto: Foto: dpa)

Nachdem meine Mutter mit mir zu Abend gegessen hatte (mein Vater rief an, er habe noch zu tun, wir sollten schon mal alleine essen), breitete sie eine cremefarbene Decke auf den Tisch und begann Patiencen zu legen. Sie benutzte dazu zwei Päckchen zu je zweiundfünfzig Spielkarten, die sie der Reihe nach aufdeckte und je nach Farbe und Wert in einer bestimmten Weise auslegte.

Es ging ihr dabei - im eigentlichen Wortsinne von ,,Patience'' - mehr um eine Geduldsübung als darum, aus den Karten irgendwelche Hinweise auf ihre Zukunft herauszulesen.

Böse Streitereien

Deswegen hatte sie, wenn ich ins Zimmer kam und fragte, ob sie schon etwas gesehen habe, immer ihre Standardantwort parat: ,,Junge, ich mache das nur zum Zeitvertreib und nicht als Wahrsagerei. Wie spät ist es denn? Eine lege ich noch, dann gehe ich ins Bett.''

Im Hintergrund lief (Staatsfernsehen, ein einziges Programm, schwarzweiß) irgendein alter Film oder eine Diskussion darüber, wie anders und schöner doch früher der Ramadan gewesen sei, doch meine Mutter sah kaum hin und sagte: ,,Kannst ruhig ausschalten, wenn du willst.''

Ich setzte mich stattdessen davor und starrte auf die im Film gezeigten schwarzweißen Straßen meiner Kindheit oder auf ein Fußballspiel, doch interessierte auch mich das wenig. Ich wollte nur wieder mal aus meinem Zimmer heraus, in dem ich voller Zweifel und Groll immer vor mich hinbrütete, und ich wollte auch mit meiner Mutter reden, wie wir das nun oft abends taten.

Manchmal arteten unsere Gespräche in böse Streitereien aus. Dann schloß ich mich wieder in mein Zimmer ein, bereute, was ich gesagt hatte, und vertiefte mich bis tief in die Nacht hinein in ein Buch. Oder ich ging nach einem Krach hinaus ins kalte Istanbul, lief rauchend so lange ziellos durch dunkle Gassen in Beyoglu, bis ich völlig durchgefroren war und die Stadt und meine Mutter schon schliefen.

Ich nahm damals eine Gewohnheit an, die ich dann zwanzig Jahre lang beibehielt, nämlich um vier Uhr morgens schlafen zu gehen und erst um zwölf Uhr mittags langsam wieder aus dem Bett zu kriechen.

In den Gesprächen und Diskussionen mit meiner Mutter ging es damals direkt oder indirekt immer um ein und dasselbe Thema: Im Winter 1972, mitten im zweiten Studienjahr, ging ich plötzlich so gut wie nicht mehr in den Unterricht. Die Ausnahme bildeten lediglich ein paar Kurse, die ich noch besuchte, um nicht exmatrikuliert zu werden.

Wie ich Schriftsteller wurde

Von meinem Vater und meinen Freunden bekam ich oft zu hören, das Diplom könne mir auch nützlich sein, wenn ich später einmal nicht als Architekt arbeitete, und da dies nicht ganz ohne Wirkung auf mich blieb, war zumindest in den Augen meiner Mutter noch nichts entschieden. Im Innersten aber war mir klar, daß die Architektenlaufbahn für mich nicht mehr in Frage kam. Noch schlimmer war, daß auch die Freude am Malen in mir abstarb und eine schmerzliche Lücke hinterließ.

Ich wußte, daß mein Trieb, mich in eine andere Welt zu flüchten, nicht allein dadurch zu befriedigen war, daß ich bis in den frühen Morgen las oder mich in Taksim oder Besiktas herumtrieb. Wenn die Ratlosigkeit mich allzu sehr plagte, schoß ich manchmal hoch und ging zu meiner Mutter, um sie zu überzeugen. Aber wovon eigentlich? Ich wußte es ja selbst nicht genau, so daß wir grandios aneinander vorbeiredeten.

Ich wurde wütend

,,Ich war genauso wie du, als ich jung war'', sagte meine Mutter etwa, wohl um mich zu ärgern. ,,Ich lief genau wie du vor dem Leben davon. Während deine Tanten ihre Zeit in Intellektuellenkreisen an der Uni oder auf Bällen und Partys verbrachten, blieb ich zu Hause und vertrödelte Stunde um Stunde mit den alten Illustrations-Zeitschriften deines Großvaters.'' Sie zog an ihrer Zigarette und musterte mich, um die Wirkung ihrer Worte zu prüfen. ,,Ich war schüchtern und fürchtete mich vor dem Leben.''

Wenn ich dieses fortwährende ,,wie du'' hörte, spürte ich eine Wut in mir hochsteigen, versuchte mich aber zu beherrschen, indem ich mir sagte, sie wolle ja nur ,,mein Bestes'' oder eben das, was sie dafür hielt. Ihre Worte verrieten aber, daß sie eine ganze bestimmte Anschauung teilte, und da mich dies verletzte, wollte ich gar nicht näher darauf eingehen. Ich sah vom Fernseher weg auf den Bosporus hinaus, auf die Scheinwerfer der Stadtdampfer, die sich durchs Wasser pflügten, und dachte stumm über das Thema nach, das mich so verärgerte. Was meine Mutter nicht offen aussprach, wurde von der trägen Istanbuler Bourgeoisie und von Zeitungskolumnisten in dreister Schwarzseherei gerne so formuliert: ,,Hier ist doch sowieso alles für die Katz.''

Dieser Pessimismus hatte natürlich mit dem ,,Hüzün'', dieser kollektiven Stimmung des Scheiterns, zu tun, der einer ganzen Stadt die Willenskraft raubte. Wenn man aber bedenkt, daß der Hüzün sich nicht zuletzt aus Armut und Verlust speiste, wie kam es dann, daß ausgerechnet unter den Wohlhabendsten diese Ansicht so weit verbreitet war? Eventuell wohl, weil diese Leute ihren Reichtum dem Zufall verdankten.

Wie ich Schriftsteller wurde

Um diesen Zufall zu kaschieren, eiferten sie westlichen Vorbildern nach, konnten aber selbst nichts leisten, was mit den brillanten Erzeugnissen der westlichen Zivilisation vergleichbar gewesen wäre, und gaben die Schuld daran jener pessimistischen, melancholischen Kultur, deren Schöpfer und Produkt sie waren.

Meine Mutter stand ihr Leben lang unter dem verhängnisvollen Einfluß bürgerlicher Bedenkenträgerei, und es ist auch nicht zu leugnen, daß ihr Pessimismus eine gewisse Berechtigung hatte. Kaum hatte sie meinen Bruder und mich zur Welt gebracht, da begann mein Vater sie rücksichtslos zu kränken. Als sie ihre Ehe einging, hätte sie sich nicht träumen lassen, daß ihr Mann sie derart vernachlässigen und daß ihre Familie finanziell so absteigen würde, und diese Enttäuschungen brachten sie dem Leben gegenüber in fortwährende Defensive.

Seid bloß wie die anderen

Wenn wir in meiner Kinderzeit zu dritt in Beyoglu unterwegs waren, auf den Markt, ins Kino oder in einen Park gingen, dann spürte ich, wie meine Mutter, sobald sie Männerblicke auf sich ruhen sah, ein Gesicht aufsetzte, aus dem man all die Aufmerksamkeit ablesen konnte, mit der sie ihre Familie und sich zu schützen gedachte. Auch wenn mein Bruder und ich uns auf der Straße stritten und schubsten, war meine Mutter zwar wütend und genervt, hatte vor allem aber etwas Behütendes an sich.

Aus dieser instinktiven Vorsicht, die ich so oft an meiner Mutter wahrnahm, erging unterschwellig ein ständiger Appell an uns Kinder: ,,Seid normal, seid so wie die anderen, fallt ja nicht auf!'' Einen nicht geringen Anteil an dieser Auffassung hatten auch herkömmliche Moralvorstellungen sowie das sufistische Menschenideal, das mit seiner Aufforderung zu Bescheidenheit und Genügsamkeit der ganzen Gesellschaft seinen Stempel aufgedrückt hatte, und mit dergleichen war natürlich nicht zu vereinbaren, daß man sich irgend etwas in den Kopf setzte und einfach sein Studium schmiß.

Ich sollte lieber unauffällig leben

Ich sollte mich und meine spirituellen Flausen gefälligst nicht so ernst nehmen, und wenn es mir schon um Leidenschaft gehe, dann sollte ich diese doch besser darauf verwenden, ein fleißiger, aufrichtiger und unauffällig-guter Mensch zu werden. Meine Mutter meinte damit quasi, daß nur Europäer sich erlauben durften, sich ernsthaft mit Kunst, Malerei, schöpferischer Tätigkeit und dergleichen zu beschäftigen.

Wir, die wir in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts Istanbul bewohnten, seien dagegen Produkte einer Kultur, die ihren alten Reichtum, ihre Kraft und ihren Willen eingebüßt habe. Den Spruch, daß ,,sowieso alles für die Katz'' sei, dürfe ich nie vergessen, sonst werde es mir später einmal leid tun.

Zur Bekräftigung ihrer These eröffnete meine Mutter mir einmal, sie habe den Namen Orhan für mich ausgewählt, weil ihr der Sultan Orhan unter allen Osmanenherrschern der liebste sei. Sultan Orhan habe sich nämlich nie zu großen Taten aufgeschwungen, sondern ein unauffälliges Leben ohne Verschrobenheiten geführt, und auch in den Geschichtsbüchern finde er zwar als zweiter Osmanensultan ehrenvolle Erwähnung, werde aber nie besonders hervorgehoben. Meine Mutter erzählte das lächelnd, und gewiß war ihr darum zu tun, daß auch mir der tiefere Sinn dieser Namenswahl begreiflich werde.

Wie ich Schriftsteller wurde

Wenn ich daher abends, wenn wir auf meinen Vater warteten, aus meinem Zimmer kam, um mit meiner Mutter zu reden, dann wußte ich, daß ich mich dem Lebensprojekt, das sie mir vorschlug, genauso widersetzen würde wie jenem bescheidenen, melancholischen und angeknacksten Leben, das Istanbul an mich herantrug. Manchmal fragte ich mich, warum ich überhaupt da hinausging und mich mit ihr stritt, und da ich darauf keine befriedigende Antwort fand, vermutete ich, es müßten dahinter noch andere Seelenabläufe stecken, deren Sinn mir bisher verborgen blieb.

,,Ist das der Aufzug?'' fragte meine Mutter.

Wir horchten beide, aber es war nicht der wimmernde Aufzugmotor: Mein Vater kam nicht nach Hause. Mit erstaunlicher Geduld widmete meine Mutter sich wieder ihrer Patience, und ich sah ihr eine Weile dabei zu. Ihre Hände, ihre Arme hatten etwas ganz Besonderes, das mich die ganze Kindheit über faszinierte, mich aber auch leiden ließ, wenn ich nicht genug Liebe darin spürte, doch vermochte ich nicht auszumachen, was genau an ihren Gesten und Bewegungen es war.

Mein Vater traf sich mit seiner heimlichen Geliebten

Ich liebte sie wahnsinnig und war zugleich wahnsinnig wütend auf sie. Vier Monate zuvor hatte sie mit kriminalistischem Spürsinn herausbekommen, in welcher Wohnung in Mecidiyeköy mein Vater sich mit seiner heimlichen Geliebten traf. Sie hatte dem Pförtner den Schlüssel dazu abgeschwatzt, und erzählte mir später kaltblütig, was sie darin gesehen hatte. Mein Vater hatte dort auf dem Kopfkissen des Bettes genau den gleichen Schlafanzug liegen, den er auch zu Hause trug, und auf dem Nachtkästchen türmten sich, wie bei uns, einige Bridgebücher, die er gerade las.

Zuerst hatte meine Mutter über das Gesehene geschwiegen, doch einige Monate später, als sie wieder geduldig eine Patience legte und dazu rauchte und hin und wieder einen zerstreuten Blick zum Fernseher warf, hatte ich mich zu ihr gesetzt und mit ihr gesprochen, und da war es aus ihr herausgeplatzt.

Etwas fehlte meiner Seele

Sie merkte gleich, daß ich ihr nur widerwillig zuhörte, und machte es deshalb kurz, und immer, wenn mir diese Geschichte nun einfiel, ließ der Gedanke an die Wohnung, die mein Vater jeden Tag aufsuchte, mich regelrecht erschauern: Mir kam es manchmal so vor, als hätte mein Vater geschafft, was mir selbst nicht gelungen war; als hätte er nämlich in der Stadt seinen Zwilling gefunden und würde sich Tag für Tag mit diesem treffen und nicht mit seiner Geliebten. Diese seltsame Sinnestäuschung ließ mich fühlen, daß meinem Leben und meiner Seele etwas fehlte.

,,Irgendein Studium mußt du doch zu Ende kriegen'', sagte meine Mutter und legte weiter ihre Karten aus. ,,Vom Malen kannst du schließlich nicht leben, also mußt du arbeiten. Wir sind nun mal nicht mehr so wohlhabend wie früher.''

,,Das stimmt gar nicht'', erwiderte ich, denn klammheimlich hatte ich mir schon ausgerechnet, daß ich durch den Immobilienbesitz meiner Eltern auf eine geregelte Tätigkeit verzichten konnte.

,,Du meinst also allen Ernstes, das Malen würde dir genug einbringen?''

An der Art, wie meine Mutter nervös ihre Zigarette im Aschenbecher ausdrückte und in spöttisch-herablassender Manier nicht von ihren Karten abließ, obwohl sie doch wußte, wieviel mir dieses Thema bedeutete, merkte ich schon, daß wir unweigerlich auf einen unserer abendlichen Mutter-Sohn-Kräche zusteuerten.

Wie ich Schriftsteller wurde

,,Wir sind hier in Istanbul und nicht in Paris'', versetzte meine Mutter mit selbstzufriedener Miene. ,,Hier kannst du der beste Maler der Welt sein, und keinen kümmert es. Du wirst mutterseelenallein bleiben, weil kein Mensch begreift, daß du eine gesicherte Zukunft aufgibst, nur um Maler zu werden. Wenn wir in einer Gesellschaft leben würden, in der man auf Kunst etwas gibt, dann meinetwegen. Aber sogar in Europa sind Leute wie Van Gogh und Gauguin für verrückt erklärt worden.''

Natürlich hatte auch meine Mutter von den Mythen der existentialistischen Literatur vernommen, die mein Vater in den fünfziger Jahren regelrecht verschlungen hatte. In Anspielung auf das zerfledderte, vergilbte Lexikon, in dem meine Mutter den Wahrheitsgehalt solcher Informationen zu überprüfen pflegte, sagte ich spöttisch: ,,Steht etwa im Petit Larousse, daß alle Künstler spinnen?''

"In der Türkei wirst Du garantiert für verrückt gehalten"

,,Ich weiß nicht. Ein begabter, sehr fleißiger Künstler kann es wohl mit etwas Glück in Europa zu etwas bringen. Aber in der Türkei wirst du garantiert für verrückt gehalten. Versteh mich bitte nicht falsch und sei nicht beleidigt, ich sage das alles nur, damit du nicht später etwas bereuen mußt.''

Was mich auf die Palme brachte, war die Beiläufigkeit, mit der sie mir so weh tat und daneben ihre verdammten Karten auslegte.

,,Wegen was soll ich denn beleidigt sein?'' fragte ich. Wahrscheinlich war ich darauf aus, noch verletzendere Worte zu hören.

,,Ich will nicht, daß irgend jemand denkt, du seist in einer Sinnkrise. Deshalb habe ich auch meinen Freundinnen nicht gesagt, daß du nicht mehr an die Uni gehst. Die würden nicht verstehen, daß jemand wie du sein Studium aufgibt, um Maler zu werden. Ich will nicht, daß sie überall herumerzählen, du seist nicht mehr ganz richtig im Kopf.''

,,Du kannst ihnen ruhig alles erzählen'', sagte ich. ,,Sowieso schmeiße ich alles hin, um nicht so dämlich zu werden wie sie!''

,,Nein, das tust du nicht. Als Kind hast du auch letztendlich immer deine Tasche genommen und bist zur Schule gegangen.''

,,Mutter, begreif endlich, daß ich nicht Architekt werden will!''

,,Studier noch die zwei Jahre fertig und mach dein Diplom. Danach kannst du entweder Architekt werden oder eben Maler.''

,,Nein!''

Wie ich Schriftsteller wurde

,,Weißt du, was Nurcihan dazu sagt, daß du dein Architekturstudium aufgibst?'' fragte meine Mutter in der ganz offensichtlichen Absicht, mir weh zu tun. ,,Sie meint, du machst es deshalb, weil dein Vater und ich uns so oft streiten und dein Vater so ein Schürzenjäger ist.''

,,Was deine spatzenhirnigen Schickeriaweiber von mir denken, ist mir schnurzegal!'' rief ich vor Wut rasend. Obwohl ich doch genau wußte, wie gern meine Mutter mich in Rage brachte, fiel ich immer wieder auf ihre Masche herein und steigerte mich in einen heillosen Zorn ,,Du bist sehr stolz, mein Junge'', sagte meine Mutter, ,,aber das gefällt mir an dir. Nicht die Kunst oder ähnlicher Kram zählen im Leben, sondern der Stolz.

Willst Du den Journalisten in den Hintern kriechen?

In Europa bringen es manche Leute gerade deshalb zum Künstler, weil sie stolz sind. Echte Künstler werden dort nicht wie Kunsthandwerker oder wie Klempner behandelt, sondern wie ganz besondere Wesen. Aber wie willst du denn hier zugleich Künstler sein und dir deinen Stolz bewahren? Du mußt hier deine Bilder Leuten unterjubeln, die von Kunst keine Ahnung haben, und dazu mußt du dem Staat und den Reichen und vor allem ignoranten Journalisten in den Hintern kriechen. Willst du das etwa?'

Ich geriet fast außer mir vor Zorn und verspürte einen schwindelerregenden Drang, hinaus auf die Straße zu stürzen. Ich wußte aber genau, daß ich noch ein paar Minuten sitzenbleiben und aufbegehren und in sadomasochistischer Lust mit meiner Mutter weiterstreiten würde, und erst dann, wenn die bittersten Worte gefallen waren, würde ich die Tür hinter mir zuschlagen und hinaus in die dunklen, schmutzigen Gassen mit ihren krummen und schiefen Gehsteigen laufen, ihren trüben Lampen, ihrem Katzenkopfpflaster, und dort würde ich in dem abseitigen Lustgefühl, solch armseligen, verkommenen Gegenden anzugehören, und besessen von dem Gedanken, irgendwann einmal etwas Großes zu leisten, lange umherziehen, ständig wie einen Film die Bilder vor Augen, die mir suggerierten, ich sei wohl arm, aber ich sei ehrgeizig, und damit glücklich.

,,Flaubert soll auch sein ganzes Leben lang mit seiner Mutter zusammengewohnt haben!'' fuhr meine Mutter in dem zugleich liebevollen und herablassenden Ton fort, der mich wahnsinnig machte, während sie noch immer aufmerksam mit den Karten hantierte. ,,Ich aber will nicht, daß du dein Lebtag mit mir zusammen deine Zeit vertrödelst. Frankreich ist Frankreich. Wenn da einer ein großer Künstler ist, dann steht ihm die ganze Welt offen. Wer dagegen hier wegen der Malerei sein Studium aufgibt und seiner Mutter auf der Bude hockt, der endet im Irrenhaus oder säuft sich tot.''

Wie ich Schriftsteller wurde

Warum stellte ich mir in solchen kummervollen Momenten so gerne vor, daß ich um Mitternacht durch die Straßen laufen würde? Warum kam mir kein besonntes, touristisches Istanbul in den Sinn, warum keine Postkartenmotive, anstatt der ewig gleichen schummrigen, öden Gassen und der Menschenschatten, die an kalten Winterabenden an fahlen Straßenlaternen vorbei übers Pflaster huschen?

,,Wenn du nicht Architekt wirst oder dich mit einem anderen Beruf finanziell unabhängig machst, dann wirst du einer dieser komplexbeladenen armen türkischen Künstler, die immer auf die Gunst der Reichen und Mächtigen schielen müssen, verstehst du?''

Du warst immer so fröhlich

Ich war in Gedanken schon mit dem Dampfer in Besiktas angelangt, wo ich, statt in den Dolmus zu steigen, zu Fuß am Dolmabahçe-Palast vorbei bis zum Stadion ging. Ich liebte den platanengesäumten Weg an der gewiß zwanzig Meter hohen, mächtigen Schloßmauer entlang, deren Steine dunkel und moosbewachsen waren. Wenn ich fühlte, daß in meinen Schläfen eine wütende Energie zu pochen begann, sagte ich mir, in zwölf Minuten schaffe ich es jetzt bis hinauf zum Taksim-Platz.

,,Du warst immer so ein fröhliches, aufgewecktes Kind, ein richtiger Sonnenschein, auch in schwierigen Tagen. Jeder hat dich immer angelächelt, und zwar nicht nur, weil du einfach lieb warst. Dir ist nie etwas Schlechtes in den Sinn gekommen, dir war nie langweilig, du hast dir immer irgendwelche Spiele ausgedacht, warst immer munter.''

Auf dem Weg nach Taksim hinauf würde ich einen Blick auf die Lichter von Galata werfen, dann oben in Beyoglu ein paar Minuten vor den Buchständen am Anfang der Istiklal-Straße verweilen und schließlich in einer Kneipe ein Bier mit Wodka trinken und wie jeder dort eine Zigarette rauchen (und mich umblicken, ob nicht irgendwo ein berühmter Künstler saß), und wenn ich dann inmitten dieser Gesellschaft schnurrbärtiger Männer das Gefühl haben würde, als einziger sehr junger, neugierig dreinblickender Mensch herauszustechen, dann würde ich wieder hinausgehen in die Nacht.

Schwindelerregende Wut

Dann würde ich nach einer Weile in eine der Nebenstraßen abbiegen und in Çukurcuma, in Galata oder in Cihangir auf das nasse Pflaster starren und hin und wieder würde ich stehenbleiben, mir den Kühlschrank anschauen, der vor einem Krämer als Schaufenster benützt wird, oder die uralte Reklamepuppe, die immer noch in der Auslage einer Apotheke steht, und ich würde dabei feststellen, wie glücklich ich doch bin. Die schwindelerregende, reine, schöne Wut, die ich empfand, während ich meiner Mutter so zuhörte, würde sich eine Stunde später in den Gassen von Beyoglu beim frierenden Dahinwandern in einen Ehrgeiz umwandeln, der meine ganze Zukunft erleuchten würde.

Vom Bier und von der langen Geherei würde ich allmählich so benommen werden, daß die schmutzigen, dunklen und traurigen Straßen der Stadt in meinem Kopf erzittern würden wie in einem der alten Filme, die ich so liebte, und es würde mich dadurch so ein Glücksgefühl durchströmen, daß es mich drängte, diesen wunderbaren Augenblick festzuhalten - so wie ich eine geliebte Frucht oder eine kleine Murmel in den Mund stecken und stundenlang dort aufbewahren konnte - und aus den leeren Straßen zurück nach Hause zu kehren, mich an meinen Tisch zu setzen und etwas zu schreiben.

Wie ich Schriftsteller wurde

,,Das Bild da an der Wand haben wir von Nermin und ihrem Mann zur Hochzeit bekommen. Als die beiden dann heirateten, gingen dein Vater und ich zu dem gleichen Maler, um dort auch ein Bild zu kaufen. Wenn du gesehen hättest, wie sehr sich der bekannteste Maler der Türkei freute, daß endlich einmal jemand kam, um ihm etwas abzukaufen, und wie ungeschickt er versuchte, diese Freude vor uns zu verbergen, und wie beflissen er sich vor uns verbeugte, als wir schließlich mit dem Bild in der Hand sein Atelier verließen, dann wäre dir die Lust daran vergangen, in diesem Land ein Künstler werden zu wollen. Und deshalb erzähle ich auch nicht weiter, daß du nicht mehr zur Uni gehst, weil du Maler werden möchtest.

Wenn die Leute, die du als spatzenhirnig bezeichnest, nämlich erfahren, daß du dir das ganze Leben, die ganze Zukunft verdirbst, um Bilder zu malen, die sie später einmal kaufen sollen, dann werden sie dir allein schon, um deinen Vater und mich damit zu erniedrigen, ein zwei Bilder abnehmen und dir aus Mitleid sogar ein Trinkgeld dafür geben. Ein Trinkgeld ja, aber ihre Tochter würden sie einem Künstler nie geben.

An diesem Abend würden wir nicht streiten

Wenn du in diesem armen Land unter diesen willenlosen, schwachen und unwissenden Menschen mit erhobenem Haupt leben willst, ohne unter die Räder zu kommen, dann brauchst du einen Beruf, der dir zu Wohlstand verhilft. Brich dein Architekturstudium bitte nicht ab, es wäre wirklich schade um dich. Schau, dieser Le Corbusier, von dem du manchmal redest, der wollte doch auch Maler werden und hat Architektur studiert.''

Die Straßen von Beyoglu mit ihren dunklen Ecken blinkten in meinem von Fluchtwünschen und Schuldgefühlen verwirrten Kopf wie Neonreklamen. Wenn ich besonders wütend oder ergriffen war, dann merkte ich, daß diese halb dunklen, halb betörenden Straßen, die ich so liebte, schon lange an die Stelle der zweiten Welt, meines Zufluchtsortes, getreten waren.

Ich wußte nun, daß wir an diesem Abend nicht streiten würden und daß ich bald auf die tröstenden Straßen hinaustreten und nach einem langen Gang um Mitternacht nach Hause kommen und mich an meinen Tisch setzen würde, um aus der Atmosphäre dieser Straßen heraus etwas zu produzieren.

,,Ich werde gar nicht Maler'', sagte ich. ,,Ich werde Schriftsteller.''

Unser Text ist das leicht gekürzte Schlusskapitel von Orhan Pamuks Buch ,,Istanbul. Erinnerungen an eine Stadt'', das am 18. November im Hanser Verlag erscheint. Die Übersetzung aus dem Türkischen hat Gerhard Meier angefertigt.

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