Nobelpreisträger Orhan Pamuk:Das Gebiss der Liebsten

Das Museum zum Roman: Nobelpreisträger Orhan Pamuk hat einen neuen Roman veröffentlicht. Das fiktive Museum der täglichen Dinge darin, wird jetzt Wirklichkeit.

Thomas Steinfeld

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Museum der Unschuld

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Das Museum zum Roman: Nobelpreisträger Orhan Pamuk hat einen neuen Roman veröffentlicht. Das fiktive Museum der täglichen Dinge darin, wird jetzt Wirklichkeit.

Von der Stadt auf der anderen Seite des Meeres dringt ein Brummen herüber. Morgens klingt es heller und lauter, abends ist der Ton deutlich tiefer und leiser. Aber das Geräusch ist immer da. Nie ist es still. Wenn Orhan Pamuk in seiner Sommerwohnung auf einer der Prinzeninseln am Schreibtisch sitzt, kann er Istanbul nicht sehen. Pinien, wilde Pistazien, Lorbeerkirschen versperren ihm den Blick auf das Wasser und auf die Stadt, die sich in einem gewaltigen Bogen um die Prinzeninseln streckt. Aber er hört die Stadt, er kann ihrem Ton nicht entgehen. Von der Kuppe eines Hügels oberhalb des Hauses, zwischen struppigem Gras und Feigenbüschen, sieht man sie dann: Von Büyükçekmece im Westen bis nach Gebze im Osten reicht die Stadt, immer an der Küste des Marmara-Meeres entlang, und das sind siebzig oder neunzig oder noch mehr Kilometer. Als die Häuser hier gebaut wurden, in den sechziger Jahren, im Bungalow-Stil mit Souterrain, lagen gegenüber nur ein paar Fischerdörfer. Die Hochhäuser, die Moscheen, die Uferpromenaden, die Fabriken, die Autobahnen, ja, auch die Menschen - es ist alles neu.

"Das Museum der Unschuld", Orhan Pamuks neuer Roman, handelt von Füsun und Kemal, einer jungen Frau, die in einer Boutique aushilft, und von einem kaum älteren Mann, der dabei ist, eine standesgemäße Verlobung einzugehen und als Unternehmer das Erbe seines Vaters anzutreten.

Text: Thomas Steinfeld Fotos: Sedat Mehder

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Die unerwartete Begegnung gibt beider Leben eine andere Richtung, und das um so mehr, als Kemal seine Geliebte bald durch eine Lüge verliert und acht Jahre werben muss, ehe er sie zurückgewinnt. Es gäbe diesen Roman nicht, wäre da nicht auch Istanbul - die Stadt, in der Orhan Pamuk fast sein ganzes Leben verbrachte und von der alle seine Bücher handeln. Doch vom Schauplatz des Romans, vom Istanbul der späten siebziger und frühen achtziger Jahre, ist fast nichts mehr vorhanden.

Die Stadt hat sich seitdem mehrere Male von Grund auf erneuert. Und so rumort unter der Liebesgeschichte ein großes Erschrecken: darüber, wie schnell sich dieser Teil der Welt veränderte.

Was vor dreißig Jahren selbstverständlich war, die Dinge, mit denen man lebte und seine Tage verbrachte, sind verschwunden. In diesem Buch verbirgt sich daher noch etwas anderes als ein Liebesroman: eine Geschichte von der Rettung des erst jüngst Vergangenen, aber schon Verschollenen. Orhan Pamuk hat die verlorenen Gegenstände gesammelt, so, wie er Kemal in seinem Roman die Gegenstände sammeln lässt. Kemal gründet mit seiner Sammlung am Ende des Romans ein Museum, und auch Orhan Pamuk ist dabei, eines zu schaffen - und gewiss hatte er gehofft, das Museum mit dem Buch zu beenden und das Buch mit dem Museum.

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Aber die Literatur ist ein weicheres, nachgiebigeres Medium als Stahl oder Stein. Das Museum der Romanfigur Kemal hätte seiner geliebten Füsun gegolten, das von Pamuk aber wird ein "Haus des Lebens" sein, ähnlich dem Museum, das der italienische Schriftsteller, Sammler und Gelehrte Mario Praz in seiner römischen Wohnung schuf: Eine begehbare Geschichte des gelebten und doch zugleich stillgestellten Lebens.

Und hatte nicht auch Andy Warhol solche Sammlungen angelegt, in den sechshundert "Time Capsules", in denen er, meist nach Monaten geordnet, alles aufbewahrte, was ihm merkwürdig und interessant vorkam - bestickte Unterhosen und alte Zeitschriften, ein Stück eingetrocknete Pizza und ein Paar Schuhe von Clark Gable?

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Wenn der Wind von Nordosten kommt, trägt er den Geruch der Gerbereien auf die Inseln. In Orhan Pamuks Jugend waren diese Gerbereien in den westlichsten Vierteln auf der asiatischen Seite zu Hause, oberhalb von Kadiköy oder Bostanci. Jetzt liegen Kadiköy und Bostanci mitten in der Stadt, die Gerbereien weit draußen in Anatolien.

Aber auf den Inseln, eine gute Stunde mit dem Dampfer vom Goldenen Horn entfernt, hat sich weit mehr Vergangenheit erhalten als in der Stadt selber.

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Auf die Inseln zu fahren, ist nicht nur Fahrt hinaus in eine Art Sommerfrische vor der Haustür, heraus aus der modernen Stadt, sondern auch eine Fahrt hinein in eine ältere Zeit, in eine Gesellschaft, die es nicht mehr gibt, mit klaren Unterscheidungen zwischen den sozialen Schichten, ethnischen Gruppen, Berufen und Handwerken.

Allein dieser Dampfer: das feine Geräusch der Wellen, wie sie gegen den Rumpf schlagen, der schwere Geruch nach Diesel, das dunkle Grollen der alten Maschine. Orhan Pamuk will das alles festhalten, und wenn sein Museum fertig ist, wird es darin bestimmt auch eine Vitrine für Geräusche und Gerüche geben. "Das Museum der Unschuld" ist ein Liebesroman, ein großartiger und trauriger. Aber er handelt von lauter alltäglichen Dingen, und er lässt das Museum entstehen: So groß ist die Liebe, dass sie alles beseelt, was Füsun besaß und berührte - und am Ende auch: was sie hätte besitzen und berühren können.

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Kemal wandelt sich zum Gründer und Kustoden einer Sammlung, in der nicht nur die Erinnerung an Füsun, sondern auch ein verlorenes Istanbul erhalten ist. Überall auf der Welt gibt es Museen, in denen Alltägliches aufbewahrt wird. Auf den letzten Seiten des Romans "Das Museum der Unschuld" ist zu lesen, dass sein Held Kemal (und sein Autor wird ihm dabei oft gefolgt sein) eintausendsiebenhundertdreiundvierzig Museen sah, die Eintrittskarten aufbewahrte und an den Häusern und Sammlungen Maß nahm: am Dostojewski-Museum in St. Petersburg, dessen einziges authentisches Ausstellungsstück ein Hut mit der Beschriftung "Wirklich von Dostojewski" sei, am Württembergischen Landesmuseum in Stuttgart, wo Kemal Spielkarten studierte, am Musée de la Vie Romantique in Paris, wo er vor dem Feuerzeug George Sands erschauerte, am Florence-Nightingale-Museum in London, wo er auf eine Haarspange stieß, am Teyler-Museum in Haarlem, wo es alte Werkzeuge zu betrachten gab, am Museum der amerikanischen Tragödien in Ste. Augustine in Florida, wo das verrostete Wrack eines Buick Electra zu sehen war, in dem im Jahr 1966 die Schauspielerin Jayne Mansfield gestorben war, am Frederic-Marès-Museum in Barcelona, dessen oberstes Stockwerk voller Gürtelschnallen, Ohrringe, Parfümflakons, Taschentücher und Broschen ist, am Museum der Dinge in Berlin, wo er lernte, dass man alles sammeln darf und alles sammeln muss, was man liebt.

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Und immer wird Kemal geschaut haben, wie sich diese Sammlung darstellt im Vergleich zu seiner eigenen. Auch die Dinge des Alltags, das weiß Kemal und das weiß jeder Kustode in jedem dieser Museen, führen ein eigenes Leben in Dauer und Wandel. Eben weil sie Gegenstände des Gebrauchs sind, gehen sie nicht in ihrer Funktion auf. In jedem dieser Dinge steckt immer auch ein Andenken. Es wohnt ihm ein Moment des Verharrens inne, und dieses Moment ist um so stärker, je schneller und je heftiger sich die Verhältnisse um dieses Ding herum verändern. Die Zeit ist für diese Gegenstände immer eine Bedrohung, und je schneller sie voranschreitet, desto mehr muss sich der Sammler dagegenstemmen.

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Der Siegeszug des Museums und die Erfahrung der beschleunigten Zeit gehören in der modernen Welt seit je zusammen. Wie viele Museen müssten geschaffen werden, um der rasenden Veränderung Istanbuls ein Verharren entgegenzusetzen? An einem Hang über dem Bosporus, in Beyoglu, auf der europäischen Seite der Stadt, steht das Haus, das Orhan Pamuk vor einigen Jahren kaufte, um sein "Museum der Unschuld" darin unterzubringen. Der Stadtteil, ein reines Wohnviertel, war heruntergekommen.

Als es das Osmanische Reich noch gab, wohnten hier levantinische Kaufleute und Angestellte, dann Griechen und Armenier, schließlich füllten Anatolier und Kurden die Lücken. Sie sind noch da, und jetzt geht es wieder aufwärts, inmitten der bunten Mischung haben sich Antiquitätenhändler und Kunsthandwerker niedergelassen. Wenn das Alte irgendwo in Istanbul noch im Neuen sichtbar sein sollte, dann hier: in diesem Haus, in dieser Nachbarschaft.

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"Ich begriff nun, dass das wahre Haus eines echten Sammlers sein eigenes Museum sein musste", sagt der Romanheld Kemal und zieht am Ende in das Haus ein, das er in sein Museum verwandelt - in eine winzige Kammer unter dem Dach, durch deren Glasboden er in die Ausstellung hinunterschauen kann. Die Dinge, die er sammelt, sind nicht nur Reliquien seiner Liebe, sie sind zugleich Relikte eines vergangenen gesellschaftlichen Zustands.

Es stört nicht, wenn sie, wie die Porzellanstreuer, die Sonnenbrillen, die Schuhe und Uhren, industriell hergestellt sind. Im Gegenteil: Dass es so viele von diesen Gegenständen gibt, gehört zum Bild dieser Gesellschaft - und ist Ansporn und Glück des Sammlers, der im Gleichen die Abweichungen erkennt und dem Verschiedenen im Ähnlichen räumliche und seelische Tiefe verleiht, indem er es ordnet. Einst soll das reale "Museum der Unschuld" in Beyoglu die Sammlung Orhan Pamuks bergen.

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So schnell aber wird das nicht geschehen, denn der Bau ist nicht abgeschlossen. Die alte Fassade des Hauses ist stehengeblieben, ein Stahlgerüst wurde eingezogen, die Hülle ist leer, die Fenster sind mit Brettern vernagelt. Im übernächsten Jahr wird Istanbul europäische Kulturhauptstadt sein. Bis dahin soll das Museum vollendet sein, spätestens. Noch liegt die Sammlung in Orhan Pamuks Studio, in seiner Wohnung, in Taschen, Tüten und Kartons. Manches soll sich noch an anderen Orten befinden, anderes fehlt, muss über Trödler oder Ebay beschafft werden. Schwierig wird es sein, das Auto von Kemals Vater zu beschaffen, einen Chevrolet von 1956, der im Roman eine große Rolle spielt.

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Kemals Museum ist ein fiktives Privatmuseum, auch Orhan Pamuks Museum, das demjenigen von Kemal bis auf wenige Details gleichen wird, wird ein Privatmuseum sein, aber nicht fiktiv: Eine mit Zimt bestreute Hühnerbrust, die im Roman verzehrt wird, ließ er in Kunststoffen nachbilden, es gibt künstlerische Replikate von gefüllten Feigenblättern und abgenagten Olivenkernen. Organische Gegenstände indessen werden vom Historischen nicht berührt. Der historische Wandel kann sie nicht ergreifen. Aber - sie waren einmal lebendig, und auch sie gab es in Tausenden oder gar Millionen Exemplaren. Und sie waren privat.

Orhan Pamuk will diese Privatheit. Denn sie bedeutet für ihn, keine staatlichen oder gesellschaftlichen Forderungen annehmen zu müssen. Wenn dieses Museum vollendet sein wird, wird es eine Heimat sein. Denn was ist Heimat, wenn nicht der Teil der Welt, den man sich durch Wissen erschlossen und bewohnbar gemacht hat, durch Arbeit und Freundschaften, Lektüre und Sammlungen? Und vor allem: durch ein Bewusstsein von Dauer und Beharrung.

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Eine solche Kontinuität bedeutet in der Türkei, einer tief gespaltenen Nation, etwas anderes als in den befriedeten, politisch fest geordneten Ländern Westeuropas: Die historische Verbindung zum Osmanischen Reich ist weitgehend zerschnitten, der Kemalismus mit seiner Glorifizierung des Staatsgründers noch jung, aber fordernd wie in südeuropäischen Ländern die katholische Kirche. Die türkischen Sozialisten, die Kurden, die Islamisten, sie alle verfügen über eine eigene Geschichtsschreibung. Die Frage, wer über welche Tradition verfügen kann und darf, ist hier brisant - vermeintlich harmlose Dinge können plötzlich größte symbolische Bedeutungen annehmen.

So ist Orhan Pamuks "Museum der Unschuld" nicht zuletzt ein Versuch, eine eigene, zivile, humane Geschichte zu schaffen, nachdem alle Kontinuitäten zweifelhaft geworden sind. Man wünscht diesem romanhaften Museum einen guten Ausgang.

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