Süddeutsche Zeitung

Kandidatenübersicht:Wer den Literaturnobelpreis erhalten könnte

Manche Namen werden schon seit Jahren gehandelt, etwa Salman Rushdie oder Haruki Murakami. Andere tauchen überraschend auf. Eine kleine Auswahl möglicher Autorinnen und Autoren.

Von Lilly Brosowsky und Carlotta Wald

Wenn man bei den englischen Wettbüros heute auf den nächsten Literaturnobelpreisträger wettet, bekommt man die schlechtesten Quoten derzeit für Michel Houellebecq. Allerdings werden dort auch noch Wetten auf den spanischen Autor Javier Marías angenommen, der vor drei Wochen verstorben ist. In den schwedischen Zeitungen fällt derweil der Name Dag Solstad. Auch der norwegische Autor Jon Fosse entwickelt sich langsam zum Dauerkandidaten. Wie viel das alles bedeutet, hat die Schwedische Akademie im vergangenen Jahr auf ihre Weise kommentiert. Der Name des Preisträgers Abdulrazak Gurnah hatte vorher auf keiner Liste gestanden. Hier trotzdem eine kleine Auswahl von Autoren und Autorinnen, deren Namen gerüchteweise in Stockholm aus dem Umschlag gezogen werden könnte.

Annie Ernaux

Annie Ernaux ist die Urmutter der Autofiktion und hat mit ihrem analytischen Blick auf die europäische Gesellschaft und ihre Machtstrukturen bereits Literaturgeschichte geschrieben. Mit ihrem Roman "Les Années" wurde sie in Frankreich 2008 bekannt, die deutschsprachige Übersetzung erschien erst 2017. Seitdem ist Ernaux auch in Deutschland aus dem literarischen Diskurs nicht mehr wegzudenken.

Ernaux erzählt von der eigenen Familie, ihrem Bildungsaufstieg, ihrer Abtreibung. Nahezu nebenbei verwebt sie das Autobiografische mit Analysen über Klassenschranken und das Patriarchat. Ihre eigene Geschichte dient ihr als Untersuchungsgegenstand und verdeutlicht so, dass gerade der trivial anmutende Alltag oft hochpolitisch ist.

Chimanda Ngozi Adichie

Die nigerianische Schriftstellerin und Feministin Chimamanda Ngozi Adichie senkt den Altersdurchschnitt der möglichen Anwärter auf den Literaturnobelpreis erheblich: Die 1977 in Enugu, Nigeria, geborene Autorin ist gerade 45 Jahre alt. Mit 19 Jahren zog sie für ihr Studium von Nigeria in die USA. 2013 wurde sie mit dem Roman "Americanah" bekannt, sie schreibt darin über Dimensionen des Schwarzseins in Nigeria und den USA, das Gefühl der Entfremdung und Rassismuserfahrungen.

"Americanah" gilt vielen als Ausnahmewerk im postkolonialen Diskurs. In der Popkultur ist sie auch ohne Nobelpreis schon heute sehr präsent: Dior druckte den Titel eines ihrer Bücher, "We should all be Feminists", auf T-Shirts, Sängerin Beyoncé sampelte einen Teil des Vortrags in ihrem 2013 erschienenen "Flawless".

Ljudmila Ulitzkaja

Die in Moskau aufgewachsene jüdische Schriftstellerin Ljudmila Ulitzkaja engagiert sich seit Jahren in der Opposition gegen den Präsidenten Wladimir Putin. Den russischen Angriffskrieg verurteilte sie in einem offenen Brief, aktuell lebt sie im Exil in Berlin. In ihren Romanen, Drehbüchern und Theaterstücken widmet sie sich der russischen Kultur, der Politik, Gewaltherrschaft und Genozid des 20. Jahrhunderts.

Während der Corona-Pandemie erschien "Eine Seuche in der Stadt", worin Ulitzkaja, eigentlich studierte Biologin, von einem Beinahe-Ausbruch der Pest in Russland berichtet. 2019 erhielt sie für ihre multiperspektivischen Erzählungen den Siegfried-Lenz-Preis.

Hélène Cixous

Hélène Cixous wird von den britischen Buchmachern derzeit auf Platz 18 gehandelt. Direkt nach Stephen King und gefolgt von der avantgardistischen Russin Ulitzkaja. Die Entscheidung für Cixous wäre eine Überraschung, aber für Überraschungen ist die Schwedische Akademie ja durchaus bekannt. Die 75 Jahre alte Cixous ist Schriftstellerin, Dramaturgin, Essayistin, Theoretikerin und allem voran: Feministin.

Mit ihrem Essay "Das Lachen der Medusa" wurde sie zur Impulsgeberin eines weiblichen Schreibens, dessen Wirkung bis heute spürbar ist. Ihre Werke, beeinflusst durch die enge Freundschaft zu dem Philosophen Jacques Derrida und die Entwicklung der Dekonstruktion, gilt auch heute in feministischen und queeren Debatten als grundlegend.

Salman Rushdie

Der indisch-britische Schriftsteller Salman Rushdie wurde als Reaktion auf seinen 1988 veröffentlichten Roman "Die satanischen Verse" mit einer Fatwa belegt. Der iranische "Oberste Führer" Chomeini rief alle Muslime öffentlich dazu auf, Rushdie zu töten. Seither lebt der Autor mit ständigen Morddrohungen. Nach der Messerattacke im August dieses Jahres in New York forderten viele prominente Stimmen den Literaturnobelpreis, etwa der Philosoph Bernard-Henri Lévy in der Süddeutschen Zeitung. Ob sie seine Chancen damit tatsächlich erhöht haben, ist fraglich. In der Vergangenheit reagierte die Akademie auf derlei Aufrufe nicht.

Haruki Murakami

Der japanische Schriftsteller Haruki Murakami wird seit Jahren immer wieder als möglicher Literaturnobelpreisträger gehandelt. Seine Werke sind vielfach ausgezeichnet und in beinahe 50 Sprachen übersetzt, seine Fans pilgern reihenweise in das "Haruki Murakami Jazz Café" in Tokio, das der Schriftsteller vor seinem Erfolg als Autor mit seiner Frau betrieb.

Murakamis Werk zeichnet sich durch seinen surrealistischen Erzählstil und Elemente der Popkultur aus. Zuletzt erschienen 2020 die Kurzgeschichtensammlung "Erste Person Singular" und 2021 das Buch "Gesammelte T-Shirts". Murakami schreibt und publiziert viel - manchmal zwei bis drei Titel in einem Jahr.

Péter Nádas

Péter Nádas erzählt die Geschichten Ungarns und mit ihnen die Geschichte ganz Europas. Der 1942 in Budapest geborene Schriftsteller beschäftigt sich in seinen Werken überwiegend mit dem kommunistischen Ungarn. Bis 1977 verhinderte die ungarische Zensur die Veröffentlichung seines ersten Romans "Ende eines Familienromans". Auch heute tritt Nádas als Kritiker des Orbán-Regimes in der Öffentlichkeit auf und bleibt ein wichtiger Beobachter von Ungarns politischer Gegenwart. Zuletzt wurde Nádas für seinen autobiografischen Roman "Aufleuchtende Details" mit dem Berman Literature Prize ausgezeichnet.

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