Noam Chomsky wird 80:Stimme der Jugend

Seit mehr als vier Jahrzehnten ist er Leitfigur der linken Jugend geblieben -der politische Aktivismus von Noam Chomsky.

Andrian Kreye

Wer die politische Figur Noam Chomsky verstehen will, sollte sich nicht mit seinen Schriften befassen, sondern mit seiner Wirkung.

Noam Chomsky wird 80: Stimme der politischen Jugend: Noam Chomsky.

Stimme der politischen Jugend: Noam Chomsky.

(Foto: Foto: AP)

Vorvergangene Woche zum Beispiel saß er in der ausverkauften Arlington Street Church in Boston auf einem Podium und stellte die Frage "Was nun? Die Wahlen, die Wirtschaft und die Welt". Chomsky trug einen groben Wollpullover und doch wirkte er staatsmännisch und weise. Mit ruhiger Stimme und im deutlichen Englisch der Ostküsten-Akademiker zog er eine Bilanz der letzten Monate.

Nichts Neues verkündete er da. Um Barack Obama ging es, um das Versprechen vom Wandel, das er verkörpert, und um die verblüffende Kontinuität zu den Regierungen der vergangenen zwei Jahrzehnte, die seine Kabinettsbildung signalisiert. Er sprach über die Rezession der Finanzmärkte, hinter der eine Rezession der Realwirtschaft lauere.

Und dann stellte er wieder einmal die bedeutungsschwangere Frage, was denn eine Demokratie ausmache, eine Demokratie wie in Bolivien zum Beispiel, oder wie es sie einst in den USA gegeben habe. Sein Fazit klang frisch und provokant und unerwartet. Obama sei nichts anderes als ein Markenzeichen, und der Wahlkampf sei nichts anderes gewesen als eine grandiose Werbekampagne, mit der "Brand Obama" dieses Jahr sogar den Computergiganten Apple aus dem Feld geschlagen habe.

Wie jeder geübte Redner setzte Chomsky ans Ende seines Vortrags zwei Pointen. Einen Lacher bekam er für seinen Vergleich, all die Wirtschaftsfachleute der vergangenen Regierungen einzusetzen, um die Wirtschaftskrise in den Griff zu kriegen, sei, als ob man Osama bin Laden damit beauftrage, den Krieg gegen den Terror zu führen. Applaus gab es für seine Bemerkung, diese Leute sollten keine Beraterjobs, sondern Gerichtsvorladungen bekommen.

Auf dem Papier wirkt solche Rhetorik plump und alarmistisch. Auch Chomskys mehr als 50 politische Bücher lesen sich zu einem großen Teil wie Brandreden, die er mit Faktenfülle und Fußnoten zu vermeintlich akademischer Größe aufgepumpt hat. Seit er 1969 in seinem Buch "Amerika und die Mandarine" den akademischen und politischen Eliten seines Landes die Schuld an den Gräueltaten im Vietnamkrieg zuschrieb, hat er fast jedes zeitgeschichtliche Thema aufgegriffen, um damit leidenschaftlich Anklage gegen seine Heimat und den Kapitalismus zu erheben.

Egal ob Kalter Krieg oder Massenmedien, Menschenrechte oder der Kampf gegen den Terror - Chomskys Weltbild besteht aus klaren Schuldzuweisungen. Als Vertreter des Anarchosyndikalismus versteht er sich, als Avantgarde einer sozialen Revolution. Seine Kritiker werfen ihm vor, er verberge hinter solchen Floskeln einen Mangel an originärem politischen Denken.

Und doch spielt Noam Chomsky im Kontext der amerikanischen Politik eine wichtige Rolle. In den linken Allgemeinplätzen seiner Rhetorik finden sich Projektionsflächen für eine gebildete amerikanische Linke, die längst ihren Schwerpunkt verloren hat. In einer politischen Landschaft, die sich in den beiden etablierten Parteien auf einen affirmativen Status quo reduziert hat, funktioniert Chomsky als Knotenpunkt für all jene Argumente, Frustrationen, Enttäuschungen und Verschwörungstheorien, die sonst im Wildwuchs der Universitäten, Journale und nun auch der Webseiten verpuffen. Als hochintelligenter Professor vom Massachusetts Institute of Technology ist er die ideale Galionsfigur für eine politische Bewegung, die in der aktiven Politik keinen Platz mehr findet.

Selten ist der politische Chomsky seiner Zeit voraus. Selbst seine Schlüsselwerke wie "Manufacturing Consent", "Profit Over People" und "Der gescheiterte Staat" bündeln doch nur die jeweils aktuellen Argumente der Linken. Doch gerade dieses Bündeln gibt der amerikanischen Linken die Schwerkraft, die ihr sonst so oft fehlt. Sicher, wenn Chomsky in seinem jüngsten Essayband "Interventionen" über die Kriege im Irak und in Afghanistan schreibt: "Oberstes Ziel der Washingtoner Planer ist nicht die Terrorismusbekämpfung, sondern die Errichtung US-amerikanischer Militärstützpunkte inmitten der bedeutendsten Energiereserven der Welt", paraphrasiert er letztlich nur den Slogan der Friedensmärsche vor fünf Jahren: "Kein Blut für Öl".

Was Chomskys Texte solchen Schlagworten verleihen kann, ist eine intellektuelle Tiefe, die den Konsens der äußeren Linken debattenfähig macht, ohne ihre Allgemeinverständlichkeit zu gefährden. Dabei tappte Chomsky schon oft in die Falle der Lust an der Debatte um ihrer selbst willen. Seine Faurisson-Verteidigung hat ihn für viele unmöglich gemacht. Im Herbst setzte sich Chomsky für die Meinungsfreiheit des Holocaustleugners Robert Faurisson ein. Ein Jahr später schrieb er für ein Buch von Faurisson einen Essay, in dem er darlegte, dass Meinungsfreiheit nur funktionieren könne, wenn auch solche Meinungen ihre Berechtigung hätten.

Doch als politischer Autor und Agitator füllte Chomsky nie eine inhaltliche, sondern eine personelle Lücke. In den marginalisierten politischen Jugendbewegungen der amerikanischen Linken fand sich seit dem Ende des Vietnamkrieges kaum eine Figur, die zum Sprachrohr ihrer Generation getaugt hätte. Susan Sontag beklagte diesen Mangel an jungen politische Köpfen kurz vor dem Ausbruch des Irakkrieges bei einem ihrer letzten Auftritte. Außer ihr selbst, dem Historiker Howard Zinn und eben Noam Chomsky habe die linke Jugend auch im 21. Jahrhundert keine Leitfiguren gefunden. Chomsky wird heute achtzig Jahre alt, Zinn ist 86, Sontag wäre dieses Jahr 75 geworden.

So ist Noam Chomsky über vier Jahrzehnte die Stimme der politischen Jugend geblieben. Ohne den amerikanischen Kontext wirkt seine politische Arbeit antiquiert und dogmatisch. Und trifft doch weit über die Landesgrenzen der USA einen universellen Nerv. Dass zu seinen Verehrern auch Wirrköpfe wie Osama bin Laden und Hugo Chavez gehören, hat seinem Ruhm in der Linken bisher nicht geschadet.

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