Süddeutsche Zeitung

Noam Chomsky über Osama bin Laden:Der Linguist und der Terrorist

Als hätte die deutsche Luftwaffe im Zweiten Weltkrieg ihre Kampfflugzeuge "Jude" oder "Zigeuner" genannt: Amerikas amerikanischster Kritiker Noam Chomsky und die Wahrheit über den Tod Osama bin Ladens.

Thomas Steinfeld

Noam Chomsky, einst ein berühmter Sprachwissenschaftler, ist heute immer noch der international bekannteste Intellektuelle der Vereinigten Staaten - seiner Feindschaft wider den amerikanischen Imperialismus wegen. Sie trug ihm im Januar 2010 sogar eine freundliche Erwähnung durch Osama bin Laden ein, weil er die Vereinigten Staaten mit der Mafia verglichen hatte.

Im amerikanischen Internet-Magazin Guernica hat Noam Chomsky nun den Tod Osama bin Ladens kommentiert, in einer Weise, die dessen Ende als Akt äußerster Willkür erscheinen lässt.

Denn nicht nur, dass ein Unbewaffneter "hingerichtet" worden sei - "in Gesellschaften, in denen das Gesetz noch einigermaßen geachtet wird, werden Verdächtige festgehalten und einem fairen Gerichtsverfahren zugeführt". Vielmehr reiche für die gesamte Anklage, Osama bin Laden sei für die Anschläge vom 11. September 2001 verantwortlich, die Beweislage anerkanntermaßen nicht aus. Dass Osama bin Laden sich dieser Taten gebrüstet habe, zähle nicht - er, Noam Chomsky, könne ja auch von sich behaupten, er habe den Marathonlauf von Boston gewonnen.

Einen Tag nach der Veröffentlichung warf der britische, aber schon lange Zeit in den Vereinigten Staaten lebende Publizist Christopher Hitchens im Magazin Slate Chomsky vor, den Bericht der Untersuchungskommission ebenso wenig zur Kenntnis genommen zu haben wie Videodokumente oder die als Bücher publizierten Recherchen unabhängiger Journalisten.

Doch kann man gewiss sein: Hätte Noam Chomsky diese Untersuchungen gelesen (was ja durchaus sein mag, der Vermutung Christopher Hitchens' zum Trotz) - er wäre zu keinem anderen Ergebnis gekommen. Denn in den politischen Schriften Noam Chomskys waltet derselbe radikale Empirismus wie in seinen linguistischen Theorien, an denen das akademische Publikum das Interesse verlor, als die - immer wieder durch neue, bislang unbedachte empirische Befunde vorangetriebenen - Revisionen des Gedankengebäudes so zahllos wie unüberschaubar wurden.

Anders gesagt: alles Wissen erscheint hier, auf eine sehr amerikanische Weise, nur in Gestalt von "facts", von Informationen in einem streng positivistischen Sinne. Das hat auf der einen Seite zur Folge, dass auf buchstäblich besinnungslose Weise immer mehr "facts" angehäuft werden, in der Hoffnung, dass sie irgendwann einen okkulten Sprung machen und zu Wissen werden. Und auf der anderen Seite entsteht sehr viel Platz für Verschwörungstheorien. Für beide Varianten stehen die politischen Schriften Noam Chomskys.

Wenn Christopher Hitchens meint, Noam Chomsky verwandle die Anschläge vom elften September in ein unauflösliches Geheimnis, hat er also nicht Unrecht - einmal abgesehen davon, dass Christopher Hitchens' polemische Frage "und wer soll es dann gewesen sein?" keine Antwort auf das Bekenntnis ist, etwas nicht zu wissen.

Unterdessen aber sammelt Noam Chomsky weiter "facts" und stößt auf die Namen der Operationen und Waffen: War "Geronimo" (der Deckname für Osama bin Laden) nicht der Name eines indianischen Kriegers, der einem geplanten amerikanischen Völkermord zum Opfer fiel? "Apache" (der Name eines Hubschraubers) nicht ein Angehöriger eines auf diese Weise in langen Kriegen aufgeriebenen Volksstammes? Und "Tomahawk" (der Name einer Rakete) nicht dessen Waffe?

Es sei so, erklärt Noam Chomsky, als hätte die deutsche Luftwaffe im Zweiten Weltkrieg ihre Kampfflugzeuge "Jude" oder "Zigeuner" genannt - um so durch die Bezeichnungen des Kriegsgeräts auf dessen letzte Bestimmung zu verweisen. Womit, und auch an diesem Punkt hat Christopher Hitchens recht, die Vereinigten Staaten das Dritte Reich an offenkundiger Bosheit noch überträfen.

In der im September 2002 verkündeten "Bush-Doktrin", so Noam Chomsky, werde erklärt, dass Staaten, die Terroristen beherbergten, wie Terroristen behandelt werden sollten. "Niemand schien zu bemerken, dass Bush nach der Besetzung und Zerstörung der Vereinigten Staaten rief sowie nach der Ermordung ihres verbrecherischen Präsidenten." Amerikanischer kann eine Kritik an Amerika nicht werden.

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SZ vom 11.05.2011/rus
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