No Music Day in England:Das Schreien und das Nichts

Rockbands werden nicht rocken, Jingles will not jangle: England verabschiedet sich zum dritten Mal für 24 Stunden vom allgegenwärtigen Klang-Brei und feiert den No Music Day. Aber was wäre die Stille ohne den Lärm?

Jens-Christian Rabe

Wenn es stimmt, dass selbst die Stille längst ein Geräusch ist, dann hört sich auch dieses Geräusch an wie Popmusik, mehr noch: wie populäre Musik. Denn Popmusik ist zum Grundgeräusch der Gegenwart geworden und nicht wenigen scheint sie längst auf unheimliche Art omnipräsent. Der mittenlastige Sound-Brei, der um einen herumschwappt, rhythmisch je nach Örtlichkeit mal stereotyp auf- mal stereotyp abgerüstet - dieser Sound-Brei tut lange nicht weh.

Josh Groban und Celine Dion

Musikern bleibt am "No Music Day" nur noch eins: Die Flucht ergreifen. Celine Dion übt schonmal.

(Foto: Foto: Reuters)

Aber irgendwann ist es da, dieses dumpfe Dröhnen, das sonst nur kennt, wer schon einmal versehentlich ein paar Stunden vor dem laufenden Fernseher geschlafen hat. Es ist deshalb kein Wunder, dass es eine große Sehnsucht gibt nach Stille. Leicht bekommt man sogar den Eindruck, sie sei das schlechthin Gute, das ganz und gar Wohltuende.

Dass in England am Mittwoch der dritte "No Music Day" begangen wird, der Tag, an dem keine Musik gehört werden soll, scheint deshalb mehr als konsequent. "iPods werden zu Hause gelassen", heißt es im Manifest auf der offiziellen Seite www.nomusicday.com, "Rock Bands werden nicht rocken", "Es werden keine Hymnen gesungen", "Jingles will not jangle".

Gesetzesrang hat die Aktion natürlich nicht, aber nachdem sich in den vergangenen Jahren immerhin schon eine kleine Londoner Radiostationen beteiligte, wird diesmal sogar auf dem staatlichen Sender BBC Radio Scotland 24 Stunden keine Musik zu hören sein. Die Zahl der freiwilligen Selbstverpflichtungen auf der Internet-Seite geht in die Tausende.

Dem Erfinder des "No Music Day", Bill Drummond, geht es darum, einen Tag Auszeit zu nehmen und über die Musik selbst und unsere Beziehung zur Musik nachzudenken. Oft diene sie nur noch der Abschottung und Betäubung. Drummond ist kein Unbekannter. Mit der Techno-Pop-Band KLF wurde der Konzeptkünstler in den frühen neunziger Jahren ein Star. Auf dem Höhepunkt des Ruhms löste er die Gruppe allerdings auf und verbrannte, symbolisch für alle Einnahmen der Band, auf einer schottischen Insel eine Million Pfund - heute wären das etwa drei Millionen Euro. Danach veröffentlichte er das Buch "The Manual", in dem er detailliert erklärte, wie man einen Nummer-Eins-Hit schreibt.

Die Stille ist golden

Die Feier der Stille hat eine lange Tradition und die berühmtesten Fürsprecher, von Lao-tse ("Die größte Offenbarung ist die Stille") über Goethe ("Leise, leise! Stille, Stille! / Das ist erst das wahre Glück") und Schlegel ("Selig, wer sich nicht in das Gewühl zu mischen braucht und in der Stille auf die Gesänge seines Geistes horchen darf") bis zu dem norwegischen Polarforscher und Expediteur Fridtjof Nansen ("Oh, so wohltuend und still! Welche Erholung von den Gedanken! Frei von dem betäubenden Lärm der Menschen.") und der britischen Band The Tremeloes und ihrem Nummer-Eins-Hit aus dem Jahr 1967: "Silence Is Golden" - Stille ist golden.

So vollkommen neben der Spur liegt die so vielbesungene Sehnsucht nach Stille nicht. Die Geschichte der Menschheit lässt sich wenigstens in den vergangenen rund hundert Jahren schließlich ohne Weiteres darstellen als ein exponentielles Anschwellen des musikalischen Grundrauschens. Es gibt sogar einen eigenen, etwas aus der Mode gekommenen Begriff für die unvermeidbare Tonspur unseres Alltags, den Zwangs-Soundtrack unseres Lebens: "Muzak". Es ist ein alter Begriff, für die vergleichsweise junge Geschichte der Popmusik ist er sogar sehr alt. Und er hat eine abenteuerliche Geschichte.

Das Schreien und das Nichts

Der amerikanische Luftwaffen-Generalmajor und Erfinder George Owen Squier nannte zunächst eine von ihm in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts entwickelte Musik-Übertragungstechnik "Muzak", die auf der damals noch kaum ausgereiften und teuren Radiotechnologie basierte. Der Kunstname entstand als Kreuzung aus "Music" und "Kodak", einer von Squier verehrten Firma. Weil sich das kommerzielle Radio bald aber doch durchsetzte, spezialisierte sich der Erfinder auf die Musik-Versorgung von Hotels und Restaurants.

Unterschwellig, unauffällig

Der Unterhaltungskonzern Warner Brothers, der in den dreißiger Jahren das Muzak-Patent kaufte, begann schließlich damit, auch Industrieunternehmen zu beliefern und betrieb dafür psychologische Forschung. Tempo und Stil der gelieferten Musik sollten so unmittelbar wie nur möglich der Produktivität der jeweiligen Firma dienen. Warner empfahl seinen Kunden dafür die Musik sehr leise abzuspielen. Sie sollte unbewusst funktionieren. Man fand außerdem heraus, dass sich Musik in Verbindung mit regelmäßigen Phasen der Stille besonders günstig auf die Arbeitseffektivität auswirkte.

Der Weg zur Produktion eigener Musik war kurz. Kosten für Tantiemen fielen aus und die Musik konnte noch gezielter zugeschnitten werden. Hintergrundmusik enstand, die so präsent sein musste, dass sie unterschwellig den Betrieb am Laufen hielt, und so unauffällig, dass sie komplizierte Arbeitstabläufe oder produktionsrelevante Gedanken nicht störte. Weil so eine Musik bewusst nur in sehr stillen Räumen wie eben Fahrstühlen bemerkt wurde, wurde sie bald abfällig nach eben jenen benannt. Fahrstuhlmusik. Easy Listening.

Das Sounddesign im späten Unterhaltungskapitalismus ist die systematische Fortsetzung dieser alten Ideen. Es gilt: Mit kaum etwas lässt sich das Image eines Produkts, seine vermeintliche Attraktivität für den potentiellen Kunden effektiver transportieren als mit einer maßgeschneiderten Werbemusik. Wie bringt man Mitglieder eines jungen großstädtischen Bildungshipstertums dazu, ein Hifi-Nerd-Produkt wie einen Flüssigkristallbildschirm zu kaufen oder überhaupt wahrzunehmen?

Mir fehlt der Krach

Man drehe ein schönes, leicht surreales Video und unterlege es mit dem warmen, melancholischen Nylongitarren-Neo-Folk des jungen schwedischen Sängers und Songwriters José Gonzáles. Auch das große Gefühl im Blockbuster-Kino hängt längst mehr an der ungebrochen suggestiven Macht von monströsen Streicher-Arrangements als an der vermeintlichen Wucht der vielfach abgenutzten Bilder.

Die Tatsache, dass das Ohr das wehrloseste aller menschlichen Sinnesorgane ist, wird freilich längst auf so mannigfaltige wie subtil-brutale Art und Weise ausgenutzt. Muzak war erst der Anfang. Am kleinen niedersächsischen Alfsee wurde im vergangenen Sommer die erste deutsche Teenager-Vertreibungsmaschine installiert, genauer: ein "System zum Zertreuen von Ansammlungen Jugendlicher".

Das Gerät namens "Mosquito" sendet Piepstöne im Bereich von 16 und 18 Kilohertz, die von Menschen, die älter als 25 sind, nicht gehört werden können. Jüngere dagegen halten das sehr hohe Geräusch keine fünf Minuten aus. In München wiederum gelang es mit Klassik, in Hamburg mit Muzakkompositionen einer Düsseldorfer Firma Junkies und Drogenhändler aus U-Bahnhöfen zu vertreiben - zum Preis weiterer akustischer Dauerberieselung im öffentlichen Raum.

Und trotzdem hat die Stille ein Problem. Erich Kästner ahnte es: "Es ist so furchtbar still. Mir fehlt der Krach", notierte er in seine lyrische Hausapotheke. Das Problem ist ein philosophisches, aber immerhin: Ohne die Stille wäre Lärm alles. Ohne den Lärm allerdings (und all die Musik, die wir für einen solchen halten) wäre die Stille nichts. Halten wir den Lärm also in Ehren. Er leistet gute Dienste. Am Donnerstag werden das auch die Engländer wieder wissen. Spätestens.

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