Süddeutsche Zeitung

"Nimbus":"Ich war nackt wie ein Gletscher"

Rettung des Weltklimas aus dem Geist der Ode? Naturzerstörung ist Ausgangspunkt der Gedichte Marion Poschmanns, mit Disziplin und Humor entdeckt sie darin ein Bündel anderer Fragen.

Von Hubert Winkels

Man kann Marion Poschmanns neue Gedichte auf die Naturzerstörung beziehen. Man kann sie lesen als Abgesang auf die lebendigen Objekte unserer vorgeblichen Verehrung und faktischen Verachtung. Als sanfte Klage über das Verschwinden des ewigen Eises, über die Vernutzung der Schätze der Erde, über die Indolenz einer aggressiven Zivilisation. Das mag manch einem guttun zur Zeit, mit diesen schönen Gedichten den Aufstand gegen die Verzweckung der lebendigen Umwelt zu veredeln.

Aber sie taugen nicht dazu. Sie nehmen zwar die Naturzerstörung zum Ausgangspunkt, aber sie entdecken darin ein ganzes Bündel anderer Fragen, die sich vor allem auf die Gestalt der Klage und des Gesangs beziehen. Wer spricht aus der Überblicks-, der Sonnenposition? Wie ist der Kläger eingebunden ins Tableau der Natur? Wie hat er selbst es geformt? Wie erlebt er die Selbstbegegnung in der konkreten Anschauung? Was ist der sprachpragmatische Sinn seines Dichtens und Denkens?

Man kann schon im Titel des ersten Gedichts die ganze Spannung zwischen menschlichem Handeln und der sich entziehenden Außenwelt spüren. Ein gleitender Satz, der ein leitmotivisches Paradox inszeniert: "Und hegte Schnee in meinem warmen Händen". Es folgt ein kurzer Rückblick auf das Schmelzen der "tiefverschneiten Berge" als direkte Folge von touristischem Blick und naturfrommer Andacht. Wir töten, was wir lieben. Wir zerkleinern das Erhabene noch im Traum, der uns die menschliche Naturgeschichte Revue passieren lässt.

Scheitert der Versuch des Herausspringens aus der Totschlägerreihe also schon in der ersten Selbstbesinnung? "Ich war nackt wie ein Gletscher, ich stand auf den / Eisbalkonen, verkündete Schneemächtigkeit, / die Auflast weiterer Massen, aus meinem / Rachen trat Dampf ..." Von Ferne grüßt hier syntaktisch ein anderer Gesang vom Untergang: "Ich war Hamlet. Ich stand an der Küste und redete mit der Brandung BLABLA. Im Rücken die Ruinen von Europa", so beginnt Heiner Müllers "Hamletmaschine".

Auch bei Marion Poschmann mischen sich begriffliche Erkenntnis und starke Bildlichkeit bis in die Details. Im zitierten Gedicht heißt es weiter: "aus meinem / Rachen trat Dampf, alle gezählten / Sterne über mir ausgehaucht, alle / moralischen Zitzen unter mir ausgesaugt ...". Das umgestürzte Kantzitat (gestirnter Himmel über mir, moralisches Gesetz in mir) markiert einen Endpunkt der moralischen und physischen Integrität des Menschen. Er ist aktiver Teil des Unheils und des Schönredens, Dichtung genannt. Aus der Entzauberung der Welt ist die Erosion ihrer physischen Substanz geworden, das Sprechen infiziert vom Prozess der Auflösung.

Wir beginnen also mit einem zivilisatorischen Schiffbruch, doch dann macht es einen Text-Sprung, und wir gehen ins Filigrane, ins Fraktale. Wir besuchen in einer Reihe sehr luftiger Textgebilde Top-Orte der Schnee- und Eisskulpturen, geografische Gefilde, in die uns Poschmanns Sehnsucht schon häufiger geführt hat: nach China, Sibirien, in die innere Mongolei. Wir begegnen den tauenden Rändern der Eisskulptur, den Schlieren und kurzlebigen Glasformen: vergehende Gebilde in Raum und Zeit. Nicht mehr nichts und noch nicht etwas. Figur auf Abruf, mit Klima als existenziellem Kern. Langsame Drift, schwache Haftung, passagere Existenz.

Damit sind wir im Zentrum der kalten Formwerkstatt von Marion Poschmann, die starke Bilder beschwört aus schwachen Materialien, aus Staub, Luft und Unscheinbarkeit, Welt aus Nimbus- und Federwolken. Am Himmel Wasserdampf, am Boden wollene Schafe. In "Nimbus" ziehen wir mit ihren Wolken-Schaf-Gebilden ins farbstille Sibirien, wo schon ihr "Schwarzweissroman" spielte, und wo in etlichen Gedichten zuvor die verschwindenden Dinge in der Unermesslichkeit ein blasses Dasein fristen.

"Sibirischer Tierstil", "Animismus", "Stadtschamanen", "Wettermachen" heißen die ersten vier Kapitel des Bandes. Allesamt evozieren sie die magische Kraft von Sprachzeichen, und wenn man das fünfte, "Baum der Erkenntnis", dazu nimmt, dann haben wir auch den Sprung in die Verallgemeinerung des Merkmals zum Allbegriff mitgemacht, biblisch: die Vertreibung aus dem Paradies in eine Welt des Benennens und Erkennens. Statt sibirischer Tiertatoos an Kuraganwänden Kants Kategorientafeln in der "Kritik der reinen Vernunft.

Die Gedichte in "Nimbus" geben viele Hinweise auf ihre eigene schwache Verfassung

Hier sind wir an der besonderen Schwelle, an der Marion Poschmann ständig wacht. Sie sucht die schwankenden Orte der Verwandlung auf, beobachtet die Übergänge von Tier zu Mensch, vom Kind zum Erwachsenen, vom Diesseits zum Jenseits, vom Blick zum Bild, vom Bild zum Begriff. Sie siedelt an der Stelle, wo die Aura des dichterischen Sprechens sich vom bezeichneten Inhalt und dem pragmatischen Sinn des Sprechens trennt und gleichwohl mit ihm verbindet: ein magischer Ort vernünftiger Sprachpraxis. Denken und Zaubern in Einem. Das Paradox ist, dass die auf Dauer gestellte Selbstreflexion eines bildlich-poetischen Sprechens die intendierte Selbstbewegung des sprachlich-poetischen Stoffes aufhebt. Das Imaginäre ist auch ein indirekter Gnadenerweis einer Vernunft, die ihre Selbstbeschränkung erkennt, ohne sie abstreifen zu können. Nur starkes Denken entlässt schwache, formbare Gebilde der Schönheit.

Wie viele Hinweise geben die Gedichte auf ihre eigene schwache Verfassung, auf des Ephemere, Transitorische, Blasse, Fahle, Kleine, Leise, Faltige, Verschwindende, Unscheinbare ihrer im Nu verdunstenden Bilder! Diese Bildlichkeit ist schön - und doch auch der Effekt einer Platzanweisung durch die herrschende Vernunft. Ein ähnliches Problem findet man bei der sogenannten Philosophie des schwachen Denkens: Sie überzeugt nur mit starken Argumenten. Das Dilemma ist auch in der Poesie nicht auflösbar, anderenfalls wären die Bilder illusorisch, niedlich, nice. Und Marion Poschmann ist nicht nice, never. Im Gegenteil: Ihre kenntnistrunkenen Aufenthalte an scheinbar entlegenen Orten der Kulturgeschichte ihrer Gegenstände sind unerreicht.

Die Lust an der Vertiefung eines Stoffs, die Varianten seiner sprachlichen Durchdringung führen auch zur zyklischen Struktur der Gedichte. So gibt es sechs "Seladon-Oden", die jene ostasiatische Keramikglasurfarbe umspielen, die durch ihre vornehme mattgrüne Glasur, durch Unauffälligkeit gewissermaßen, auffällt. Seladongefäße markieren Höhepunkte asiatischer Kultur. Ihr dem Wasser naher Farbton veranlasste Adenauer, diese Farbe für die Kölner Rheinbrücken zu verwenden. Im deutschen Farbnormsystem ist sie am ehesten unter Resedagrün zu finden (RAL 6011). Im 19. Jahrhundert wurde die nach einer bei Bienen beliebten Strauchpflanze benannten Farbe als Anstrich für Industriemaschinen aller Art verwandt. Der Name dieses gar nicht mehr so unscheinbaren Farbtrostes in Poschmanns Universum der schönen Dinge, stammt von einem sehnsüchtigen Schäfer des Barock. In Honoré d'Urfés einst berühmtem Schäferroman "L'Astrée" heißt er Céladon und begehrt schmachtend die schöne Astrea.

Marion Poschmann bewegt sich traumwandlerisch sicher in der Kultur- und der Wissenschaftsgeschichte. Erst ihr Kenntnisreichtum lässt sie schließlich durch die Erscheinungen wandeln wie mit geschlossenen Augen. Parallel zu "Nimbus" ließen sich ihre Zürcher Poetikvorlesungen von 2019 publizieren, die sich vor allem auf Quallen, Wölfe und Schafe beziehen und mit ihnen schlicht überall hin führen.

Bei aller Strenge ist Humor das Medium, das die Dinge in Fluss bringt. Er lässt den beschworenen hypnopompen und hypnagogen Einbildungen des Sch(l)äfers Raum und wacht über den schwachen Schlaf der Vernunft, der auf diese vorteilhafte Weise zum "Schaf der Vernunft" wird. Solches 'Einhegen des Schnees' leisten auch die strengen Formen, die sich die Dichterin auferlegt: Oden, mit einer Verneigung vor Klopstock, und sogar einen veritablen Sonettenkranz, der bei allen Konstruktionszwängen am stärksten eine historisch reale Geschichte erzählt, ausgerechnet!

Disziplin und Humor, davon sprechen auch die Verse gegen Ende des Bandes, die das Zeug zum Sprichwort haben, weil sie die apokalyptisch angespannten Glieder lockern:

"Rettung des Weltklimas aus /

dem Geist der deutschen Ode -

haben wir uns da nicht etwas

viel vorgenommen?"

Nö.

Marion Poschmann: Nimbus. Gedichte. Suhrkamp Verlag, Berlin 2020. 119 Seiten, 22 Euro.

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SZ vom 29.06.2020
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