Indierock:Ängste sind okay

Indierock: Schmerzlos: Nilüfer Yanya

Schmerzlos: Nilüfer Yanya

(Foto: Molly Daniel)

Nilüfer Yanya holt die Gitarre aus dem Sperrmüll der Rockgeschichte und vertreibt damit ihre Ängste. Davon gibt's im Moment ja genug - nicht nur für Millennials.

Von Timo Posselt

Als das letzte Mal allen Ernstes über einen potenziellen Atomkrieg spekuliert wurde, hatten sich Nilüfer Yanyas Eltern noch nicht mal kennengelernt. Yanya ist Jahrgang 1995 und stellt sich womöglich gerade ähnliche Fragen wie viele unter 30 in wohlbehüteten Verhältnissen: Was, wenn dem Autokraten wirklich gerade der Finger überm roten Knopf zuckt? Lohnt sich dann die Bewerbung aufs nächste Praktikum noch? Wozu ein neues WG-Zimmer suchen, wenn der Weltkrieg eines der mittelfristigen Zukunftsszenarien ist?

Endlos privilegierte Fragen, klar. Aber wenn nun Nilüfer Yanyas zweites Album "Painless" mitten in die Kluft zwischen Endzeitstimmung und Ohnmacht schlittert, hilft es vielleicht zu wissen, wie es wohl jenen geht, deren Zukunftshorizont seit Jahren auf immer innovativere Art implodiert.

Die Erschöpfung in Yanyas Stimme ist auf "Painless" schier mit Händen zu greifen. Sie singt oft heiser, als hätte sie sich schon mit Schreien verausgabt. Wenn sie in ihre Kopfstimme abhebt, wird die Luft scheinbar immer dünner. Wie eine dunkle Wolke schwebt über diesen Songs etwas Fatalistisches: Die Wut über Ignoranz, Kränkung und Ungerechtigkeit ist geschluckt - aber sie gärt noch. Fürs Erste nimmt man aber alles hin. So schüttet Yanya in "Company" ihre Illusionslosigkeit zu einem verstrahlten Riff in nur eine dürre Zeile: "Good luck human if that's your choice."

Danke, Glück kann man ja grad gut gebrauchen.

Schmerzlos sind nur jene, die schon einmal verletzt wurden

Aufgewachsen ist Nilüfer Yanya im schicken Westlondoner Stadtteil Chelsea, als Tochter eines britisch-türkisch-barbadisch-irischen Künstlerpaars. Nach dem Klavierunterricht in jungen Jahren drückte ihr schließlich ihre Schwester einen iPod in die Hände. Darauf waren Rotzlöffelrockbands wie Fall Out Boy oder Panic! At The Disco und die Verheißung, es diesen Typen gleichzutun. Sie lernte deren Songs und dazu ein paar von den Strokes, The Cure und den Pixies, und war fortan imprägniert gegen kommerzielle Versuchungen der Musikindustrie. Nachdem sie ein paar scheppernde Demos auf Soundcloud veröffentlicht hatte, schlug sie so das Angebot für eine Girlgroup aus und tingelte stattdessen über die Bühnen der Londoner Clubs. So organisch wie ihre Karriere wuchs auch ihr Sound. Zum Beispiel vom vorherigen zum aktuellen Album.

Im Vergleich zum verspielteren, jazzigeren Vorgänger "Miss Universe" ist "Painless" ein Rohbau. Die Gitarren allein tragen die Statik, das Schlagzeug und die elektronischen Drums hallen von unverputzten Betonwänden wie in einem Bunker und der Synthesizer fiept zwar nur selten, wie im Schlussstück "Anotherlife", deutet dann aber Zuversicht an. Auch der Albumtitel "Painless" zeugt von einer überstandenen Malaise. Schmerzlos sind schließlich nur jene, die schon einmal verletzt wurden.

Indierock: Nilüfer Yanya - "Painless" (ATO Records).

Nilüfer Yanya - "Painless" (ATO Records).

Die Entschlossenheit, mit der Yanya hier ihre emotionalen Sollbruchstellen vorzeigt, lässt schnell an die ungewaschene Desillusion des Grunge denken. Yanya kann das egal sein. Denn als Kurt Cobain mit einer Schrotflinte aus dem Leben schied, war sie noch nicht einmal gezeugt. Wie so viele Zuschreibungen fällt auch diese bei Nilüfer Yanya auf sich selbst zurück.

Wie es ihr nun also geht, lässt sich vielleicht am besten mit dem Song "Stabilise" erahnen: Den ganzen Morgen ist sie wachgelegen, in der Hoffnung, doch noch was zu fühlen. Draußen bellen wütende Hunde. Aber trotz Versprechen kommt niemand zur Rettung. Das Schlagzeug rennt sich selbst davon. Die Gitarren spulen Girlanden in die Leere, und Yanya singt: Bin ich erst mal wieder stabil, bleib ich auch bestehen. Angst ist ein bodenloses Fass. Yanya weiß das. Schon 2019 hatte sie dem britischen Independent erklärt, sie spüre eine "kriechende Paranoia in allen Lebenslagen". Sei man den paranoiden Gedanken erst mal gefolgt, täte sich "eine ganze Unterwelt" auf. Klingt so die Millennial-Panik irgendwo zwischen Angstzuständen und drohendem Atomkrieg? Egal, es hilft.

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