Nikola Madzirov:Fragil - und unbezähmbar

Der mazedonische Dichter Nikola Madzirov kennt Bayern als Stipendiat der Villa Waldberta. Seine Gedichte sind bei der Ersten europäischen Lyriknacht am Donnerstag, 15. November (21 Uhr), im Marstall zu hören. (Foto: Zoerner)

Lange Zeit war das Wort "fragile" für mich ein Aufkleber auf den Pappkartons, in denen mein Vater Fernseher verkaufte oder Glasvitrinen, die die Leute mit haufenweise Tellern und Gläsern füllten, die sie nur verwendeten, wenn zu Hause Hochzeiten und Beerdigungen anstanden. Bevor ich mir das Alphabet der Bedeutungen aneignete, war "fragile" für mich ein Zeichen für Unberührbarkeit, ein Synonym für Gefahr statt für Zerbrechlichkeit. Die Zerbrechlichkeit Europas ist gefährlich, weil man sie nicht sehen kann, wie einen geborstenen Stein in einem Mosaik, das sich der Zeit und den Raubgräbern widersetzt.

Ich liebe Europa wegen seiner imaginativen und wirklichen Weite, die es mir erlaubt, allein zu sein, wenn ich nicht in das Zimmer der engen geografischen oder literarischen Definiertheit zurückkehren will. Ich reise mit der Sprache dorthin, wo ich mir wünschen würde, dass wir uns mit einem Blick verständigen könnten, dem Blick auf die Schönheit oder den Himmel als Tiefe oder Symbol, diesen Himmelkontrapunkt aller Aggressionen, wie die Himmel Kurosawas in Rashomon. Europa ist aus Sprachen gebaut, und vielleicht ist es deshalb zerbrechlich, organisch, unbezähmbar.

Dieser Text ist ein Ausschnitt aus einem Briefwechsel mit dem Lyriker Jan Wagner, abgedruckt in der Zeitschrift "Die Horen", Band 265.

(Aus dem Mazedonischen übersetzt von Alexander Sitzmann)

© SZ vom 14.11.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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