Niklas Luhmanns Buch "Die Grenzen der Verwaltung":Lästige Launen

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Leidenschaftslosigkeit ist eine zivilisatorische Errungenschaft: Niklas Luhmann 1993. (Foto: imago/Teutopress)

In seinem nachgelassenen Buch "Die Grenzen der Verwaltung" entwirft Niklas Luhmann schon alle wesentlichen Gedanken seiner Systemtheorie - nur anschaulicher und humorvoller als in den eigentlichen Hauptwerken.

Von Julian Müller

Das neue, aus dem Nachlass veröffentlichte Buch "Die Grenzen der Verwaltung" von Niklas Luhmann dürfte seine Anhänger ebenso faszinieren, wie sich die zahlreichen Kritiker dadurch in ihrer Abneigung bestätigt sehen werden. Es handelt sich um eine unfertig gebliebene Theorie der Verwaltung, die in den Jahren 1963/64 verfasst wurde und Einblick gewährt in die Entstehungsbedingungen einer soziologischen Großtheorie, die zu diesem Zeitpunkt noch gar keine war.

An der Soziologie Niklas Luhmanns scheiden sich seit jeher die Geister. Vielen Fans stehen mindestens ebenso viele Kritiker gegenüber, und zur kritischen Rezeption hat Luhmann durchaus seinen Teil beigetragen. An die Gepflogenheiten der akademischen Soziologie wollte er sich nie so richtig halten und hat mit seiner Reserviertheit dem Fach gegenüber immer auch ein wenig kokettiert. Tradition und Kanon waren seine Sache nicht, zumindest vordergründig. "Die Klassiker sind Klassiker, weil sie Klassiker sind", hat er einmal lapidar bemerkt und dadurch deutlich gemacht, dass ihm an der Exegese der klassischen Schriften des Fachs nicht viel liege. Stattdessen holte er sich lieber Anregungen aus der Kybernetik, der allgemeinen Systemtheorie oder der Neurobiologie. All das ist bekannt und gut erforscht. Selten allerdings wird in der Forschung betont, wie stark die Erfahrungen als ehemaliger Verwaltungsbeamter in die soziologische Theorie Luhmanns eingeflossen sind.

Rechtswissenschaft, Wirtschaftswissenschaft, Politikwissenschaft und Psychologie wirft Luhmann vor, Verwaltung bislang viel zu einseitig beschrieben zu haben

Denn von Hause aus war Luhmann gar kein Soziologe. Er hatte Jura studiert und arbeitete ab 1953 zunächst am Oberverwaltungsgericht Lüneburg, später im niedersächsischen Kultusministerium, ehe er Anfang der Sechzigerjahre an die Verwaltungshochschule Speyer wechselte und sich dort verstärkt wissenschaftlichen Fragen widmete. In dieser Zeit erscheint auch seine erste eigenständige Monografie "Funktionen und Folgen formaler Organisation" (1964), Luhmanns vielleicht schönstes Buch.

Vordergründig handelt es sich um eine allgemeine Theorie der Organisation, bei genauem Hinsehen wird man darin aber auch eine Art teilnehmende Beobachtung des Geschehens in Büros, Vorzimmern und Sitzungsräumen erkennen, die Rainald Goetz einmal zu Recht als den "unwahrscheinlichsten Büroroman" bezeichnet hat. All jenen, die Luhmann für einen abstrakten und weltfremden Theoretiker halten, der mit empirischer Arbeit nichts zu tun hat - diese Kritik wird nebenbei bemerkt nicht selten von denjenigen geäußert, die nie außerhalb der Universität gearbeitet haben -, sei die Lektüre dieser sehr präzisen Ethnografie des Organisationsalltags dringend ans Herz gelegt.

Die allgemeine Theorie der Organisation beabsichtigte Luhmann offenbar durch eine allgemeine Theorie der Verwaltung zu ergänzen, wobei dieses Projekt nie abgeschlossen wurde. Immerhin aber wurden zwei der geplanten sechs Kapitel fertiggestellt, die als Typoskript vorliegen und die Grundlage des von Johannes F.K. Schmidt und Christoph Gesigora sorgfältig herausgegebenen Buchs "Die Grenzen der Verwaltung" bilden. Luhmanns Ziel war es, einen Beitrag zur Ausarbeitung einer allgemeinen Verwaltungswissenschaft zu leisten. Was auch heißt, dass er in diesem Text gar nicht als Soziologe spricht.

Die Soziologie taucht vielmehr als eine Disziplin unter anderen auf, neben der Rechtswissenschaft, der Wirtschaftswissenschaft, der Politikwissenschaft und der Psychologie, denen Luhmann jedoch allesamt den Vorwurf macht, die Verwaltung bislang zu einseitig beschrieben zu haben. Während die Soziologie und die Psychologie sich ausschließlich auf das Handeln des Einzelnen in Verwaltungen konzentrierten, die Wirtschaftswissenschaft Verwaltungen zumeist marktanalog betrachteten und die Rechtwissenschaft sich damit begnüge, nach der Richtigkeit von Verwaltungsentscheidungen zu fragen, fehle es bislang an einem verbindenden Zugang zur Verwaltung. Einen solchen aber hat Luhmann im Sinn und schlägt daher vor, fortan auf abstrakte Begriffe wie System, Erwartung, Entscheidung und Funktion umzustellen.

Niklas Luhmann: Die Grenzen der Verwaltung. Suhrkamp, Berlin 2021. 254 Seiten, 28 Euro. (Foto: N/A)

Dass Luhmann Verwaltungen nun als Systeme fasst, dürfte nicht weiter verwundern, schließlich gilt er als Hauptvertreter der sogenannten "Systemtheorie". Dabei macht gerade die Lektüre von "Die Grenzen der Verwaltung" deutlich, wie unglücklich gewählt, ja irreführend diese Bezeichnung ist. Bereits in diesem frühen Text weist er darauf hin, dass ein System nicht als eine stabile und abgeschlossene Einheit vorgestellt werden dürfe, sondern dass Systeme als permanente Abgrenzungsversuche zu jeweils eigenen Umwelten verstanden werden müssen.

Die Systemtheorie Luhmanns ist daher im Grunde eine Systeme/Umwelten-Theorie. Der Titel "Die Grenzen der Verwaltung" ist insofern klug gewählt, als Systemerhaltung eben immer ein Management der eigenen Grenzen und das Reagieren auf Umweltveränderungen ist. Im Falle der Verwaltung sind diese Umwelten das Publikum, das Personal und die Politik. Im Verwaltungsalltag geraten diese Umweltbeziehungen permanent in Konflikt, etwa wenn Politiker versuchen, persönlichen Einfluss auf die Verwaltung zu nehmen, Interessenverbände gleichzeitig Druck ausüben und womöglich noch Mitgliedschaftsrollen und private Rollen des Personals kollidieren. Gerade die Gleichzeitigkeit solcher Mehrfachbeziehungen soll mithilfe des Systembegriffs beschreibbar gemacht werden.

Die Frage ist: Für welches Problem ist das Bürokratische der Bürokratie eigentlich die Lösung?

Als ehemaliger Verwaltungsbeamter wusste Luhmann über die Widersprüchlichkeit derartiger Beziehungen nur allzu gut Bescheid. In den besten Momenten gewährt dieses Buch Einblick in das bisweilen uneindeutige und banale Geschehen in Verwaltungen, für das sich die klassische Bürokratiekritik vielleicht doch etwas zu wenig interessiert hat. In Büros werden eben auch Butterbrote gegessen, und es wird viel auf die Uhr geschaut. Das Bild von der Verwaltung als einem riesigen und anonymen Apparat wird von Luhmann jedenfalls nicht gezeichnet.

Als streng funktionalistischer Denker liegt ihm eher daran, nach der Funktion von Anonymität zu fragen. Für welches Problem ist Anonymität eigentlich die Lösung? Und worauf müssten sich Verwaltungen einstellen, wenn sie, wie bisweilen gefordert, stärker auf Empathie umstellten? Die Entstehung jenes sachlich-unpersönlichen Verhaltensstils in Verwaltungen, den Luhmann im Übrigen als Zumutung für alle Beteiligten und als krasse Verletzung unserer gewohnten Umgangsformen beschreibt, wird von ihm dennoch als eine Lösung beschrieben, um die unterschiedlichen Ansprüche der Umwelten austarieren zu können.

Leidenschaftslosigkeit ist mithin eine zivilisatorische sowie bürokratische Errungenschaft, vor allem aber ist sie eines von vielen Mitteln, um Erwartbarkeiten herzustellen, nach innen wie nach außen. Denn nur vor dem Hintergrund stabiler Erwartungen, vor allem aber stabiler Erwartungserwartungen können Verwaltungen arbeiten und verbindliche Entscheidungen treffen. Es darf nicht jede Woche ein Regierungswechsel befürchtet werden, und auch die Bewilligung eines Antrags sollte nicht von den Launen des Sachbearbeiters abhängen können.

"Die Grenzen der Verwaltung" besticht durch intime Kenntnis gerade des Innenlebens von Verwaltungen. Das allein macht dieses Buch lesenswert. Immer wieder streut Luhmann unerwartete, bisweilen humorvolle Beschreibungen ein, etwa wenn er der Verwaltung empfiehlt, ihr negatives Image in der Öffentlichkeit doch einmal als positiven Markenkern zu begreifen. Aber auch aus wissenschaftshistorischer Sicht lohnt sich die Lektüre. Man kann Luhmann dabei zusehen, wie er in diesem frühen Text Begriffe erprobt und konzeptuelle Entscheidungen trifft, an denen er später festhalten wird.

Selbst Luhmann-Kenner dürften erstaunt sein, wie weit die Theorie bereits im Jahr 1963/64, also lange vor dem Erscheinen von Luhmanns Hauptwerk "Soziale Systeme" im Jahr 1984, ausgearbeitet war. Das allerdings hinterlässt auch einen etwas irritierenden Leseeindruck. Schließlich führt dieses Buch vor Augen, dass die Verwaltung nicht nur der Testfall für die Luhmann'sche Theorie war, sondern jener Untersuchungsgegenstand, an dem er sein eigenes theoretisch-begriffliches Instrumentarium überhaupt gewonnen hat.

Von Ende der Sechziger an hat sich Luhmann bekanntlich immer stärker von verwaltungswissenschaftlichen Fragen gelöst und sich an die Ausarbeitung einer groß angelegten Theorie der Gesellschaft gemacht. Viele jener Mittel aber, mit denen er dann die Wirtschaft, das Erziehungssystem, ja selbst die Religion, die Kunst und die Liebe beschrieben hat, sind in "Die Grenzen der Verwaltung" im Grunde bereits angelegt. Und das dürfte einmal mehr all jene bestätigen, die in der Soziologie Luhmanns seit jeher das Werk eines Verwaltungsbeamten gesehen haben, der Gesellschaft insgeheim doch mit Verwaltung verwechselt habe.

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