Süddeutsche Zeitung

"Nightmare Alley" im Kino:Nachts auf dem Jahrmarkt

Der Thriller "Nightmare Alley" erzählt von einem Schausteller, der seine Zirkustricks zu echten Betrügereien ausbaut - bis ihm ein Coup zum Verhängnis wird.

Von Sofia Glasl

Laut preist der Marktschreier seine Attraktion an: Mensch oder Bestie? Da könne man sich nicht sicher sein, das Wesen sei so einzigartig wie gefährlich. Zu seiner bunt ausgeschmückten Geschichte von einer wissenschaftlichen Anomalie und Sensation präsentiert er dem Publikum einen ungewaschenen Wilden, der irre vor Angst in die Manege springt und einem Huhn den Kopf abbeißt.

Mensch oder Monster, die Frage ist ein Leitmotiv. Das stellt auch Stanton Carlisle (Bradley Cooper) schnell fest, der Neuzugang der eingeschworenen Truppe. Später wird der Besitzer des Kuriositätenkabinetts ihm erzählen, wie er alkohol- und drogenabhängige Obdachlose anheuert, sie in einen Käfig sperrt und mit Beruhigungsmitteln gefügig macht, um sie dann zum Beispiel als hühnerfressenden "Geek" zu präsentieren. Stan hat den Dreh schnell raus: Hier regiert die Logik des Sichtbaren. Erfolg und Niederlage aller Attraktionen des Rummels hängen davon ab, im richtigen Moment hinzuschauen, die Aufmerksamkeit zu lenken und im Zweifel auch die entscheidenden Informationen zu verbergen. Stan wendet dieses Prinzip fortan auch jenseits der Bühne an.

Cate Blanchett spielt eine fabelhaft grausame Psychologin und Femme fatale

Fabelhaft und unheimlich sind die dunklen Welten, die der mexikanische Regisseur Guillermo del Toro in seinen Filmen erfindet. Monster sind für ihn nie die Verkörperung des Grauens, sondern fordern die Realität heraus, um das Böse in ihr zu verdrängen und das Gute zu finden. In "Pans Labyrinth" (2006) stellten sich die übernatürlichen Wesen gegen Faschisten und in "Shape of Water" (2017) gegen Rassismus und Homophobie - nie im direkten Kampf, immer in märchenhaften Allegorien.

Über seinem neuen Film "Nightmare Alley" allerdings, einer Adaption des gleichnamigen Romans von William Lindsay Gresham aus dem Jahr 1946, hängt erstmals nur der Schein des Übernatürlichen. Der Rummel ist Teil der Realität, die er herausfordert, und das Publikum kommt, um sich bewusst täuschen zu lassen und kurz dem eigenen Alltag zu entfliehen. Die Analogie zum Kino, das genau an diesem Ort als Attraktion geboren wurde, ist unverkennbar. Der erklärte Cineast del Toro macht deutlich: Sein Film soll zugleich Schau und Blick in den Maschinenraum der Unterhaltungsindustrie sein.

Die Ökonomie des Sehens und Gesehen-Werdens hält das Konstrukt am Laufen, und schnell beherrscht Stanton diese Kunst besser als seine Kollegen. Del Toro nimmt sich Zeit, den Blick hinter den Vorhang so detailliert wie möglich zu zeigen. Da werden alle Register gezogen mit doppelten Böden in der Bühne, geheimen Hinweisen der Assistentin und genauem Beobachten der Zuschauer. Er scheint deren Innerstes zu lesen, obwohl sie ihm unwissentlich alle Hinweise selbst geben. Alle Menschen sehnen sich danach, verstanden zu werden, so lautet sein Berufsgrundsatz. Der Rest ist Handwerk.

Augen und Spiegel starren deshalb im Film aus allen Winkeln und scheinen direkt in die Seelen derer zu blicken, die sich schon immer unsichtbar gefühlt haben. Selbst Stan verzehrt sich nach Bestätigung von außen und ist bereit, für Prominenz und Reichtum alles und jeden zu verraten. Deshalb reicht es ihm nicht, den Jahrmarkt zu verlassen und als "Der große Stanton" eine eigene Nummer aufzuziehen. Er lässt sich auf "Spook Shows" ein und behauptet, mit den verstorbenen Verwandten des Publikums sprechen zu können. Die Psychologin Lilith Ritter (Cate Blanchett) versorgt ihn mit den Geheimnissen ihrer reichen Patienten. Damit ist die Illusion perfekt.

Doch an der geheimnisvollen Lilith beißt Stan sich die Zähne aus. Weshalb sie ihm hilft, ist rätselhaft. Statt Geld will sie eine Therapiesitzung mit ihm als Entlohnung. Ihre Praxis gleicht dem Inneren eines Rorschachtests, und natürlich muss es hier zum Showdown kommen. Wie die beiden jede Geste des Gegenübers belauern, um sich gegenseitig zu lesen und die eigentliche Agenda zu erkennen, ist großes Kino. Cate Blanchett spielt Lilith als fabelhaft grausame Femme fatale und Bradley Cooper setzt auf seinen hochglanzpolierten Charme, der immer wieder darüber hinwegzutäuschen vermag, zu welchen Grausamkeiten Stan in der Lage ist.

Solche Szenen reihen sich in "Nightmare Alley" aneinander wie die Attraktionen des Rummels. Del Toro ist im filmischen Spiegelkabinett Amok gelaufen, sein Film ist ein visuell überbordender Retro-Noir und eine düster-schaulustige Vision der Unterhaltungsindustrie. Auch wenn diese Nummern die Laufzeit von 150 Minuten nicht vollends tragen, ist dies womöglich del Toros bisher fatalistischster Film. Denn die Grausamkeit der Quacksalbertricks liegt immer auch darin, dass mit den Emotionen des Publikums gespielt wird. Dieser Drahtseilakt geht nicht immer gut. Wo sonst das Übernatürliche in die Realität hereinbricht, sind es hier nun die menschlichen Abgründe selbst. Denn nichts ist so gefährlich wie ein Hochstapler, der auf seine eigene List hereinfällt.

Nightmare Alley, USA 2021 - Regie: Guillermo del Toro, Buch: Guillermo del Toro, Kim Morgan, Kamera: Dan Laustsen. Mit: Bradley Cooper, Cate Blanchett. Disney, 150 Minuten.

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