Süddeutsche Zeitung

Nigerianische Erzählungen:Fast ein Gefühl wie Geborgenheit

Chimamanda Ngozi Adichie könnte sich über vieles aufregen, ihre Wirklichkeit ist ungemütlich, weil tragisch und unberechenbar. Aber die nigerianische Autorin lamentiert nicht, sondern erzählt davon lieber in dem Buch "Heimsuchungen" - und das großartig.

Tim Neshitov

Die nigerianische Schriftstellerin Chimamanda Ngozi Adichie könnte sich über einiges aufregen. Darüber etwa, dass viele Familien in Nigeria ihre Töchter auch im 21. Jahrhundert an geld- und hormongesteurte "big men" verheiraten. Darüber, dass Nigerianer, die in die USA auswandern, sich für ihre Herkunft schämen, obwohl sich Amerikaner für keinerlei Herkünfte interessieren (und sich dafür nicht schämen). Oder Adichie könnte sich darüber aufregen, dass die nigerianische Gesellschaft zwar einige Autoren von Weltruhm hervorgebracht hat wie Chinua Achebe und Wole Soyinka, aber immer noch sehr wenig liest und deswegen ihre eigene Vergangenheit vergisst, etwa den Biafra-Krieg.

Adichie wurde 1977 in Enugu geboren, der einstigen Hauptstadt des abtrünnigen Staates Biafra, sieben Jahre nach dem Krieg, in dem ihre beiden Großväter ums Leben kamen. Sie wuchs in der Universitätsstadt Nsukka auf, in einem Haus, in dem auch ihr literarisches Vorbild Chinua Achebe gewohnt hatte, ein Chronist des Verfalls. Mit 19 ging sie zum Studium in die USA und pendelt seitdem zwischen beiden Ländern. Sie kennt beide Welten sehr gut und könnte sich interkulturell kompetent aufregen, was eine wachsende Nische in der Migrantenliteratur bereichern würde. Da Adichie auch eine gnostische Ader besitzt, könnte sie sich zudem über Gott aufregen, über die Ungerechtigkeit von Flugzeugabstürzen und über fromme Menschen, die in diesen Abstürzen oder deren Ausbleiben ein Zeichen Gottes erkennen.

All das: Big Men, entwurzelte Diasporafrauen und Ausbrüche des Irrationalen, im Krieg wie im Alltag, beschreibt Adichie in ihrem frisch ins Deutsche übersetzten Erzählungsband Heimsuchungen, der auf Englisch bereits 2009 unter dem Titel The Thing Around Your Neck erschien. Allerdings regt sich Adichie kaum über etwas auf. Bis auf seltene ungelenke Ausfälle - mal feministisch, mal postkolonial - prangert sie niemanden an. Sie tut in diesem Band, was sie bereits in ihren Romanen Blauer Hibiskus (2003) und Die Hälfte der Sonne (2006) vorzüglich getan hat. Sie beschreibt die Wirklichkeit.

Mit beinahe Tschechow'scher Milde

Adichies Wirklichkeit ist ungemütlich, weil tragisch und unberechenbar, und man möchte sie nicht sein Eigen nennen - obwohl Adichie in bester humanistischer Tradition (als Kind verschlang sie Dickens) aus fremden Kulturhülsen wie Küche, Sprache oder Kleidung das Menschliche herausschält. Sie tut das mit einer lakonischen, beinahe Tschechow'schen Milde, die beim Leser bisweilen ein Gefühl der Geborgenheit hervorrufen kann.

Aber Adichies Welt ist sehr komplex, trotz der Prägnanz ihrer Sätze, und hinter jedem Schicksal lauert eine persönliche und kollektive Vergangenheit, die das Handeln des Menschen bedingt, aber nie rechtfertigt. In ihrem Debütroman Blauer Hibiskus erzählte sie von einem Familienpatriarchen, der sich tapfer für die Opfer des Juntaregimes einsetzt, aber zu Hause Frau und Kind mit militantem Katholizismus terrorisiert, psychisch und physisch. Auch in Heimsuchungen gibt es keine bösen und keine guten Menschen, sondern nur Menschen, die glauben, nach einer inneren Wahrheit zu leben, und solche, die das verraten haben, was irgendwann ihr Wesen ausmachte.

"Ist es ein gutes Leben, Papa?", fragt Nkiru am Telefon, die Tochter eines 71-jährigen Mathematikprofessors in der Erzählung Geister. Nkiru ruft aus den USA an, wo sie mit ihrem Sohn lebt und als Ärztin arbeitet. Sie spricht "mit diesem schwachen, ein wenig störenden amerikanischen Akzent". Der Professor lebt in Nsukka, der Universitätsstadt, die im Sezessionskrieg als Erste von den Regierungstruppen geplündert wurde, am 6. Juli 1967. Damals floh er mit seiner Frau nach Berkeley und dort wurde Nkiru geboren. 1976 kehrten sie zurück. Seine Frau ist nun tot, seine Pension wird nicht ausgezahlt, aber die Tochter schickt ihm Dollars. Ob das ein gutes Leben sei, fragt sie also. "Es ist nicht gut oder schlecht, sage ich ihr, es ist einfach meins. Und darauf kommt es an."

Geister ist die beste Geschichte in diesem Band mit zwölf Erzählungen. Viele der Geschichten werden aus der Ich-Perspektive von jungen Frauen erzählt, die aufgrund ihres Alters und ihrer Erfahrungen zum Teil autobiografische Züge tragen. Die Protagonistin von Jumping Monkey Hill ist gar eine junge nigerianische Schriftstellerin. In Geister ist der Ich-Erzähler zwar ein alter Professor, aber seine Erzählung verwebt beinahe alle Themen, die Chimamanda Ngozi Adichie derzeit beschäftigen, zu einem vielschichtigen Meisterwerk.

Der Professor steht in der Schlange vor der Universitätskasse, die wieder mal leer ist. Der Bildungsminister habe das Pensionsgeld gestohlen, fluchen nichtakademische Angestellte, Fahrer, Gärtner. Nein, der Rektor sei's gewesen, sein Penis solle schrumpfen. Der Professor kauft den Männern Bananen und denkt sich, sie bräuchten eigentlich Feuchtigkeitscreme. Die Harmattan-Zeit ist noch nicht zu Ende, wegen der trockenen Winde sehen ihre Gesichter und Arme aschig aus. Der Professor selbst hat sich eingecremt. Früher hat das immer seine Frau getan.

Panorama des Krieges, des Exils, der Erinnerung

Er begegnet Ikenna, einem Kollegen aus alten Tagen, den er für tot gehalten hat. Sie unterhalten sich, und aus den knappen Alltagssätzen entsteht ein Panorama des Krieges, des Exils, der Erinnerung, der Hoffnung. Als der Professor den Tod seiner Frau erwähnt - in Igbo, denn in "Englisch vom Tod zu reden hat für mich immer eine verstörende Gleichgültigkeit gehabt" - bemerkt er Tränen in Ikennas Augen, obwohl sein Kollege sich nicht mal an ihren Namen erinnern kann. "Vielleicht trauerte er um eine Zeit voller Möglichkeiten. Ikenna, wurde mir bewusst, ist ein Mann, der die Last dessen, was hätte sein können, mit sich herumschleppt."

Ebere, die Frau des Professors, ist an gefälschten Medikamenten gestorben. Aber sie besucht ihn regelmäßig, cremt ihn ein. "Wir sind gebildete Leute, man hat uns beigebracht, unsere Grenzen im Hinblick darauf, was wir als real ansehen, sehr starr zu ziehen." Aber Ebere besucht ihn trotzdem, und "manchmal kitzelt sie meine Hoden, fährt mit den Fingern darüber. Sie weiß sehr wohl, dass meine Prostatamedikamente dort unten alles gefühllos gemacht haben, und sie tut das nur, um mich zu necken, um ihr freundlich-spöttisches Lachen hören zu lassen." Im Fernsehen zeigen sie einen Mann, der gefälschte Medikamente importiert haben soll. Der Mann sagt, die Medikamente würden niemanden töten, sie würden bloß keine Krankheiten heilen. Der Professor schaltet den Fernseher aus. "Doch ich war nicht gekränkt, nicht so schlimm, wie ich es gewesen wäre, wenn Ebere mich nicht besuchen würde."

Heimsuchungen. Erzählungen. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2012. 301 Seiten, 19,99 Euro.

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Quelle:
SZ vom 26.05.2012/cag
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