Süddeutsche Zeitung

Nicole Krauss' Erzählungsband "Ein Mann sein":Kristalline Klarheit

Geradlinig, komplex und auf ganz eigene Art intim: Nicole Krauss' brillanter erster Erzählungsband "Ein Mann sein".

Von Meike Feßmann

An Katastrophen gewöhnt, die sich jederzeit wieder ereignen können, sind die Figuren dieser Geschichten stets auf das Schlimmste gefasst. Obwohl sie meistens in den Vereinigten Staaten leben, bleiben sie "europäische Juden". Nur selten gibt es einen Ort, der sich wie ein Zuhause anfühlt, aber die Sehnsucht danach ist groß. Ehen scheitern, Familien driften auseinander, die ehemaligen Partner finden das häufig nicht einmal besonders schlimm. Aber oft gibt es eine Person, die schwankend und verstört auf den Bruchlinien zerrütteter Beziehungen zurückbleibt. In "Endzeit" ist es die heranwachsende Tochter. Man überlässt ihr das Haus und teilt ihr noch schnell die Aufgabe zu, den Get, den jüdischen Scheidebrief, beim Rabbi vorbeizubringen, damit alles seine "Ordnung" hat. Während rund um Los Angeles Brände wüten, haben sich die Eltern bereits auf den Weg gemacht. Die Mutter zur Großmutter nach Wien, der Vater, ein Archäologe, zur Megiddo-Ausgrabung ins nördliche Israel.

Was an den zehn Geschichten der amerikanischen Autorin Nicole Krauss vielleicht am meisten verblüfft, ist ihre Geradlinigkeit. Alles geschieht schnurstracks, so als liefen straff gespannte Seile quer durch Zeit und Raum. Ihr Debütroman, "Kommt ein Mann ins Zimmer", war ähnlich erzählt. "Die Geschichte der Liebe" wurde zum Bestseller. In späteren Romanen verstrickte sie sich gelegentlich in verschachtelte Handlungen, die nur mühsam durch ein System aus Geheimnissen und Dingsymbolen zusammengehalten wurden. In "Das große Haus" rumpelte ein alter Schreibtisch durch die weitläufige Geschichte.

Vielleicht sind die Freundinnengeschichten in ihrer beherzten Geradlinigkeit sogar die besten Storys

Nach vier Romanen, zuletzt der um Kafka-Manuskripte und die Schaffenskrise einer Schriftstellerin kreisende Roman "Waldes Dunkel", legte Nicole Krauss mit "To Be a Man" vor zwei Jahren ihren ersten Geschichtenband vor. "Ein Mann sein", treffend übersetzt von Grete Osterwald, versammelt zehn Erzählungen. Die früheste, "Zukünftige Notstände", erschien bereits 2002 im Magazin Esquire und wurde für "Best American Short Stories" ausgewählt. Alle anderen entstanden zwischen 2012 und 2020. Sieben Geschichten wurden zuvor in Zeitschriften publiziert, die meisten im New Yorker. Darüber hinaus ist die 1974 geborene New Yorkerin auch wegen ihrer gescheiterten Ehe berühmt. Von 2004 bis 2014 waren sie und Jonathan Safran Foer ein jüdisch-amerikanisches Glamour-Paar der jungen Literatur. Die einen sahen in ihnen die Nachfolger von Siri Hustvedt und Paul Auster, andere verglichen sie gar mit Beyoncé und Jay-Z. Selbst der Wert ihres Brooklyner Hauses wurde öffentlich debattiert. Von solch überdrehten Zuschreibungen ist in ihren Geschichten wenig zu spüren. Wohl aber von einer Lust an Projektionen, Spiegelungen, Echos, Symmetrien.

Bei aller Geradlinigkeit sind die Geschichten komplex und auf eine spezielle Weise intim. Die enge Bindung zwischen Personen ist häufig das Schwungrad der Handlung. Und diese Bindungen entstehen manchmal wie aus dem Nichts oder ergeben sich aus beinahe absurden Konstellationen. So etwa, wenn ein Vater mit Darmtumor ins Krankenhaus kommt und sich in den Halluzinationen eines postoperativen Komas mit seiner queeren Tochter identifiziert, die im selben Krankenhaus zur gleichen Zeit ein Kind zur Welt bringt. Jahrzehntelang fühlte sich der emeritierte jüdische Historiker "von der Pflicht erdrückt", nun glaubt er, mit den "Wehen seiner eigenen Geistesarbeit" den Enkel hervorgebracht zu haben.

Eine Tochter erbt von ihrem Vater ein Apartment in Tel Aviv, von dem sie zuvor nichts gewusst hatte. An den Möbeln, der Vielzahl von Büchern und der Art der Gegenstände erkennt sie, dass dies "sein wirkliches Zuhause" war. Nachts träumt sie, der Vater klopfe als Vierjähriger an die Tür und sei untröstlich. Sie versorgt das "kleine Vater-Kind", während die Wohnung eine weitere Überraschung für sie bereithält. Ein Freund des Vaters steigt mit eigenem Schlüssel regelmäßig dort ab, wenn er in der Stadt ist. Offenbar denkt er nicht daran, sich an die geänderten Verhältnisse anzupassen. Und irgendwie kommt sie schließlich damit zurecht, lässt sich bekochen oder steigt über den "Fremden" hinweg, wenn er nachts im Flur schläft oder in ihrem Bett liegt. "Ich schlafe, aber mein Herz ist wach" heißt die kafkaeske Geschichte über nachgetragene väterliche Fürsorge.

Israel, besonders Tel Aviv, ist eine zweite zentrale Kulisse vieler Geschichten. Sie spielen aber auch in der Schweiz, Japan, Lateinamerika. "Im Park" erzählt von einem Landschaftsarchitekten, der in einem nicht näher bezeichneten lateinamerikanischen Land Opfer der Militärjunta unter einem künstlichen See einbetoniert. Erzählt wird die Geschichte aus der Perspektive seines Privatsekretärs. Nur zwei Geschichten haben männliche Erzähler, die anderen sind aus der Perspektive von Frauen erzählt. Vielleicht sind die Freundinnengeschichten in ihrer beherzten Geradlinigkeit sogar die besten Storys. Sie haben eine kristalline Klarheit, unter der ein nachdenklicher Wärmestrom fließt. Nach mehr als dreißig Jahren wird einer Frau klar, wie sehr sie die aus dem Iran stammende Mitschülerin bewunderte, die als Heranwachsende ein Jahr mit ihr im gleichen Genfer Internat verbrachte. In der Erinnerung an Soraya erkennt sie, wie riskant weibliche Macht und Verletzlichkeit miteinander verschränkt sind.

Gefeiert wird hier auch die erlösende Kraft von Sex

Die 2019 in "Best American Short Stories" aufgenommene Geschichte "Ershadi sehen" ist das Bravourstück des Bandes. Auch hier geht es um zwei Freundinnen, die sich nach einer intensiven Zeit in ihrer Jugend aus den Augen verloren haben. Doch es gibt einen Film, Abbas Kiarostamis "Der Geschmack der Kirsche", der sie wie ein Drehkreuz jederzeit entflammbarer Wünsche miteinander verbindet. Sie haben den Film des iranischen Regisseurs unabhängig voneinander und zu verschiedenen Zeiten ihres Lebens gesehen. Beide glauben sogar, sie seien Homayoun Ershadi, dem Hauptdarsteller, persönlich begegnet. Wie Nicole Krauss die äußeren Ereignisse der beiden Frauen-Biografien im Zeitraffer zusammenfasst - Hochzeit, Kinder, Scheidung -, wie sie zwischen Tel Aviv, London und Tokio hin und her springt, während sie der Beschreibung höchst diffiziler Gefühle Raum verschafft, ist umwerfende Short-Story-Kunst. Ihr Stil ist sinnlich, konkret und detailgenau, mit Geräuschen, Gerüchen, Wahrnehmungen und dichten Szenen. Zugleich ist er durchsetzt von Momenten, in denen die Zeit plötzlich stillzustehen scheint, während sich ein Satz im Erzählfluss aufbäumt, als stolpere man über die eigenen Füße: "Aber gerade als die Enttäuschung anfing, sich wie Beton in mich zu ergießen, blieb der Mann stehen und wandte sich um, als hätte ihn jemand gerufen."

Es geht häufig ums Kümmern und Versorgen und um den Abgrund an Bedürftigkeit, der entsteht, wenn Eltern ihren Kindern keine Sicherheit geben, sei es wegen transgenerationaler Traumata oder weil sie andere Pläne haben. Nicole Krauss feiert die erlösende Kraft von Sex, etwa, wenn Noa, die junge Frau in "Endzeit", schließlich mit dem Sohn des Rabbis schläft und Ärger, Zorn und Anspannung einfach verfliegen. Oder wenn Romi, die Freundin aus der Ershadi-Geschichte, mit ihrem früheren Freund vögelt und ihr Körper endlich wieder zum Leben erwacht, nachdem sie monatelang ihren sterbenden Vater pflegte.

Wie es wohl wäre, ein Mann zu sein, das thematisieren die Geschichten eher unterschwellig. Die Titelgeschichte aus dem Jahr 2020 wirkt eher wie ein Appendix. "Ein Mann sein" ist ein brillanter Geschichtenband. Die Form hat Nicole Krauss erst spät für sich entdeckt. Dabei passt sie hervorragend zu ihren Talenten.

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