Süddeutsche Zeitung

"Die Shitstorm-Republik":Empörungsmaschinen

Die Journalistin Nicole Diekmann hat einen so massiven Shitstorm erlebt, dass sie ein Buch darüber geschrieben hat.

Von Aurelie von Blazekovic

Nicole Diekmann lag in eine Decke gewickelt auf dem Sofa ihrer Eltern, als sie den folgenschweren Tweet absetzte. Die Journalistin entließ an diesem 1. Januar 2019 ein schnödes "Nazis raus" in die Twitter-Welt, sie hatte selbiges dort auch schon mal zuvor vermerkt, ohne Aufregung. Diesmal war die Hölle los: Eine tagelange Diskussion, in die sich unter anderem Heinz-Christian Strache, Jan Böhmermann, Boris Becker und Heiko Maas einschalteten. Medien berichteten. Die ZDF-Journalistin Diekmann selbst hatte gerade zum Glück ein paar Tage frei.

Jetzt hat sie ein ganzes Buch über die Internetwut in Deutschland vorgelegt. In "Die Shitstorm-Republik" fragt sie, wie es soweit kommen konnte, dass in immer kürzeren Abständen irgendeine Äußerung erst online und dann in den Medien in den immer gleichen Mustern für helle Entrüstung sorgt bis hin zu Hass und angedrohter oder sogar echter Gewalt.

Für die größtmögliche Wirkung war der 1. Januar 2019 aus mehreren Gründen ein idealer Zeitpunkt für das "Nazis raus"-Statement. Ein Feiertag, dazu einer nach ruhigen Wochen voller Feiertage. Wer an diesem Tag durch Twitter scrollte, war vermutlich angeödet von der gesättigten Anfang-des-Jahres-Leere. Aus Studien weiß man, dass Wochenenden und Feiertage die beste Shitstorm-Zeit sind. Und es war vielleicht auch diese Behaglichkeit, die sie selbst schludern ließ, schreibt Diekmann, denn ihre ironisch gemeinte Reaktion auf die ersten Gegenregungen (ein Nazi sei "Jede/r, der/die nicht die Grünen wählt"), machte die Sache nicht besser, sondern schlimmer, wie das bei einem Shitstorm eben so ist.

Sie kann nicht anders, als wieder auf Twitter nachzusehen

Diekmann beschreibt, wie sich das Auge des Sturms anfühlte: Hitze, Schweiß, Sausen in den Ohren. Ein Gefühl, wie ausgeknockt zu sein, von Dutzenden Beschimpfungen auf dem Display, von dem Wissen, dass man das Handy zwar auch ausmachen könnte, das aber nichts daran änderte, dass sich gerade eine unbestimmte und unberechenbare Masse Menschen gegen einen formiert.

In der echten Welt bleibt für Diekmann in den Tagen des Sturms alles normal. Sie geht einkaufen, sitzt im Tierarzt-Wartezimmer. "Ich bekomme diese beiden Realitäten mit mir als Protagonistin nicht in Einklang", schreibt sie, sie kann nicht anders, als wieder auf Twitter nachzusehen. Alles passiert im eigenen Handy, im virtuellen Zuhause, kein Ort, den sie verlassen könnte, und müde die Tür hinter sich zu ziehen könnte. Wer den Hass mit sich herumträgt, tut kein Auge zu und kann auch keine Argumente mehr hören, weil alles brüllt.

Fast alle, so Dieckmann, die in einen Shitstorm geraten, sind danach schockiert von seiner Wucht, einige ziehen sich für immer zurück, andere wollen ihren Platz auf keinen Fall räumen. Zur letzteren Gruppe zählt Nicole Diekmann, die im Buch appelliert, online so aktiv wie möglich zu werden, Raum einzunehmen, zu widersprechen. Denn was virtuell anfängt, bleibt nicht dort.

Der Hass begleitet Nutzer sozialer Medien schon so lange Jahren, dass viele völlig abgestumpft sind. Eine Online-Welt ohne Hass ist nicht vorstellbar. Die Gruppendynamiken, die dabei entstehen, sind faszinierend - und angsteinflößend. Ihre Analyse gerät in "Die Shitstorm-Republik" zu knapp. Diekmann charakterisiert lieber die einzelnen Plattformen, das wütende Twitter, das spalterischen Facebook, das geradezu friedliche, jüngere Instagram. Auch das Verhältnis der deutschen Politik zu den Plattformen nimmt viel Platz ein.

Das zentrale Problem des Buches ist entsprechend: Der Aufruf an alle, mehr Raum in sozialen Medien einzunehmen, hört und fühlt sich zwar gut und clever an, weil man so mit ein wenig persönlichem Online-Aktionismus schon etwas bewirken zu können glaubt. Die Empörung ist aber leider genau kein nerviger Kollateralschaden der sozialen Medien. Sie sind vielmehr ganz absichtlich als Empörungsmaschinen konzipiert. Wenn dort jedoch, wie von Diekmann gefordert, künftig noch mehr Menschen mitmachen, ist leider eher anzunehmen, dass nur einfach noch mehr Menschen dauerwütend werden.

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