Verschwörungsmythen:Was uns ergreift

Lesezeit: 5 min

Gefühlte Tatsachen in zugespitzter Form: Mann mit Aluhut im August 2020 auf einer Berliner Demo von Corona-Leugnern gegen die Pandemie-Politik der Bundesregierung. (Foto: Jochen Eckel/imago images)

Warum sind Halbwahrheiten und Verschwörungserzählungen so erfolgreich? Nicola Gess und Ingrid Brodnig wissen Rat.

Von Gustav Seibt

Im "Presseclub" der ARD vom 22. Januar 2017, zwei Tage nach der Amtseinführung von Donald Trump, stellte eine Zuschauerin die Frage, ob es rechtliche Möglichkeiten gebe, den Präsidenten loszuwerden, etwa durch ein Amtsenthebungsverfahren. Die Antwort wurde von Constanze Stelzenmüller übernommen, einer bekannten Amerika-Kennerin. Sie erläuterte die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen eines solchen Verfahrens, darunter seriöse Anklagepunkte und eine Zweidrittelmehrheit im Senat für die Verurteilung - wir kennen das inzwischen. Stelzenmüller beschrieb das als "politisch und rechtlich hohe Hürden" und schloss: "Da muss schon einiges passieren."

In diesem Moment machte Josef Joffe, der ebenfalls in der Runde anwesende Herausgeber der Zeit, den halblauten Einwurf "Mord im Weißen Haus". Eine unverkennbar ironische Bemerkung, fast ein fiktiver Titel eines Krimis. Noch leiser replizierte Stelzenmüller "Josef, ernst bleiben!" Ein kleiner Austausch von Flapsigkeiten.

Mehr als ein Jahr später, am 8. März 2018, trafen die Schriftsteller Uwe Tellkamp und Durs Grünbein zu ihrer berühmten Debatte in Dresden zusammen. In seinem einleitenden Statement listete Tellkamp eine Reihe von Zitaten und Ereignissen auf, die die aktuelle politisch-moralische, auch mediale Pathologie Deutschlands belegen sollten. Darunter nannte er auch Joffes Äußerung. Er bezeichnete sie als "Antwort auf die Frage einer Zuschauerin, wie man Trump wieder loswerden könne" und zitierte wörtlich: "Mord im Weißen Haus."

Gess versteht die Halbwahrheit als Erzählform

Das Missverständnis ist trivial, leicht auszuräumen und doch weittragend. Aus einem Witz, dessen Unernst schon in der Situation thematisiert wurde, wird ein Mordaufruf. Ein solcher hätte es aber auch bei weniger Ironie nicht sein können, weil der Gesprächskontext nur die rechtlichen Voraussetzungen eines Amtsenthebungsverfahrens betraf, also mögliche Verfehlungen Trumps. Joffes Einwurf sollte die Unwahrscheinlichkeit eines Impeachments bekräftigen.

Hat Tellkamp die Unwahrheit gesagt? Er zitierte wörtlich und trotzdem falsch. Dass dies mit Absicht geschah, ist ähnlich unwahrscheinlich wie ein Mordaufruf aus dem Mund von Josef Joffe, so viel Ehrenhaftigkeit sollte man beiden wohlbekannten Persönlichkeiten zubilligen. Nicola Gess, die dieses Beispiel in ihrer erhellenden Studie über "Halbwahrheiten" analysiert, vermutet plausibel, dass Tellkamp seine Version aus sekundären Quellen bezog, beispielsweise von der Internetseite "Politically Incorrect", deren "News" einen Tag später, am 23. Januar 2017, behaupteten, "Zeit-Schreiberling Josef Joffe" habe "zum Mord im Weißen Haus" "aufgerufen". Die inkorrekten "News" vermissten den "Aufschrei aller sonst so Empörten". Auch andere Online-Organe des rechten Spektrums verbreiteten diese Version der Szene.

Nicola Gess: Halbwahrheiten. Zur Manipulation von Wirklichkeit. Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2021. 160 Seiten, 14,00 Euro. (Foto: N/A)

Die PI-News zitierten formal zutreffend, sie zeigten sogar den passenden Video-Ausschnitt samt schriftlicher Einblendung des Wortwechsels zwischen Joffe und Stelzenmüller. Doch der Text dazu verfälschte die Szene krass und eindeutig absichtsvoll. Wer sich die Mühe macht, den Video-Schnipsel genau anzuschauen, kann dies sogar auf den PI-News erkennen - nur tun das die wenigsten, sie lassen sich von der emotionalisierenden Präsentation der Szene überwältigen. Die Umdeutung soll Zorn wecken und bekräftigen, und zorngeleitet wird dann auch ihre Rezeption. Tellkamps Dresdner Auftritt zeugte insgesamt von einem solchen thymotischen Überdruck.

Die Abhandlung, die Nicola Gess den Halbwahrheiten als "Manipulationen der Wirklichkeit" widmet, verfährt literaturwissenschaftlich. Sie zielt aber auf das politische Problem der zunehmenden Erosion des Faktischen. Gess begreift die Halbwahrheit als Erzählform, die Elemente der Wirklichkeit aufgreift, dann verformt und rekombiniert, zuweilen in ihr Gegenteil verkehrt. Noch mehr als die "Lüge" (in der Presse als absichtsvolle Falschmeldung "Fake News") bedrohe die Halbwahrheit den für politisches Handeln und Verhandeln entscheidenden Bezug auf eine gemeinsame, von allen geteilte Tatsachenwahrheit. Das ist eine große Gefahr, denn die Wirklichkeit gibt der Politik ihren Gegenstand und die Grenze ihrer Macht vor.

Ingrid Brodnig: Einspruch! Verschwörungsmythen und Fake News kontern - in der Familie, im Freundeskreis und online. Brandstätter Verlag, Wien 2021. 158 Seiten 20,00 Euro. (Foto: N/A)

Gess verbindet das mit bekannten Diagnosen zum Platztausch von Wirklichkeit und Meinung und zum damit einhergehenden autoritären Relativismus; sie vergleicht Halbwahrheiten mit den guten alten Ideologien, deren Restwahrheit Adorno für immanente Kritik nutzen wollte. Doch augenöffnend sind vor allem ihre im engeren Sinn literarischen Beobachtungen. Halbwahrheiten ersetzen, so Gess, die Wahr-falsch-Unterscheidung durch die Dichotomie glaubwürdig-unglaubwürdig, ihr Anspruch ist nicht Referenz auf Wirklichkeit, sondern Kohärenz, innere Stimmigkeit, die Überzeugungskraft der guten Geschichte.

Schlagend ist der beste Fund von Gess: Halbwahrheiten folgen in ihrer Genregesetzlichkeit der altbekannten Form der Anekdote, der oft aus dem Untergrund und der Mündlichkeit stammenden, "viral" verbreiteten Geheimgeschichte, die exemplarisch der Wirklichkeit ein neues Ansehen gibt: gefühlte Wahrheit in zugespitzter Form. Daher die Nähe zu Verschwörungstheorien, aber auch zur Hochstapelei. Diese beiden Formen des Halbwahren rechnen mit dem emotionalen Einverständnis der Rezipienten. Die Halbwahrheit lebt von erfüllten Erwartungen und Bestätigungen eingeschliffener Urteile, Ängste und Hoffnungen. Sie kommen als "faktuale Erzählungen" daher, transportieren aber Fiktionen. Wie jeder Hochstapler schließen sie einen Pakt mit dem Publikum und dessen Wohlfühlbedürfnissen.

Beklemmend zeigt Gess das an den Reportagen des Schwindlers Relotius, dessen Erfolg vor allem für seine begeisterten Leser peinlich ist. Relotius griff mit traumwandlerischer Sicherheit tief sitzende emotionale Vorverständnisse einer linksliberalen Öffentlichkeit auf. Während Relotius vor allem positive moralische Gefühle bespielte, arbeitet der Verschwörungstheoretiker Ken Jebsen mit den Ängsten und dem Misstrauen seiner Zuhörer, ihrem Bedürfnis nach Vereinfachung einer bedrohlich undurchschaubaren Lage.

Was folgt daraus praktisch? Wie stellt man denn nun wirksam richtig?

"Begreifen, was uns ergreift", diesen alten philologischen Imperativ wendet Gess aufs hybride Genre der gut platzierten Halbwahrheit an. Das Teuflische an ihr ist, dass ihr Erfolg sich die vielen nützlichen Idioten im Publikum zunutze macht, also uns alle, die wir auf sie hereinfallen und dann weitertragen. Diese nützlichen Idioten sind potenziell alle, die vor den Bildschirmen sitzen und sich erregen. Selten lud eine literaturwissenschaftliche Begriffsklärung so zur Selbstprüfung ein. Auch Tellkamps nur wenige Sekunden dauernde Falscherzählung von Joffes Flapsigkeit gewinnt Glaubwürdigkeit nur als Teil eines größeren Zusammenhangs: im Gesamtgemälde von Niedergang, Rechtlosigkeit und öffentlicher Lüge, das Tellkamp 2018 in Dresden zeichnete.

Die Analysen von Gess erinnern an die berühmten Debatten über Ereignis und Erzählung von Geschichte in der Gruppe "Poetik und Hermeneutik" um Reinhart Koselleck und Hans-Robert Jauss, die sie leider nicht erwähnt. Auch da spielten archaische "einfache Formen" des Erzählens wie Exemplum, Novelle, Anekdote, Zeitungsnotiz ihre Rolle, leider noch nicht die moderne Form der Reportage. Der beunruhigende, Wirklichkeit ins Beliebige verschiebende Erfolg des Rhetors Donald Trump hat einen anthropologisch aufzuschlüsselnden Hintergrund, der über Lüge als bloße Machtdemonstration hinausreicht.

Was folgt praktisch daraus? Den Mitbürgern mit Erzähltheorie zu kommen, dürfte wenig nützen. Ganz ausgezeichnet zur Theorie von Nicola Gess passt dagegen die Praxis, die Ingrid Brodnig in einer Handreichung zum Diskutieren ausdrücklich "in der Familie, im Freundeskreis und online" vorstellt. Brodnig setzt nicht nur aufs Instrument des Faktenchecks, sondern auf rhetorisch-emotionale Gegenstrategien. Wie stellt man wirksam richtig? Nicht indem man die Falschbehauptung wiederholt und bloß ein Minus vor sie setzt, denn das bestärkt sie unabsichtlich. Man sollte besser das Richtige positiv formulieren.

Brodnig rechnet wie Gess mit der Gefühlskraft von "Verschwörungsmythen" und Fake News. Aber Rhetorik können die anderen auch, und womöglich besser. Wer die beiden kleinen Bücher nacheinander liest, wird sich ein nächstes Level der Kritik wünschen, das in Selbstkritik mündet. Jeder und jede, die im Großen oder Kleinen am öffentlichen Gespräch teilnehmen, sollten sich immer wieder prüfen: Wenn eine Nachricht, eine Behauptung, eine Formulierung besonders leicht ins Blut gehen, wie Traubenzucker, dann sollte man sofort innehalten, die Quelle prüfen (wie das geht, zeigt Brodnig praktisch) und fragen, ob das nicht viel zu schön (oder schrecklich) ist, um wahr zu sein. Am Ende lautet die Formel: Misstraue dem Kitsch!

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

SZ PlusChristian Kracht
:"Halt, stop, so geht es nicht weiter"

Christian Kracht reizt mit seiner uneindeutigen Haltung zu Ernst und Täuschung seine Kritiker aufs Blut. Sein neuer Roman "Eurotrash" wirkt klar autobiografisch. Kann das sein? Der Schriftsteller über seine Familie und das Spiegelkabinett der Literatur.

Interview von Johanna Adorján

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: