Filmdebüt "Nico" im Kino:Die Wut der Geschlagenen

Lesezeit: 3 Min.

Spielt die Hauptrolle und hat auch das Drehbuch mitgeschrieben: Sara Fazilat in "Nico". (Foto: UCM.One)

Wenn in den fröhlich-diversen Berliner Kiez plötzlich Gewalt einbricht - Eline Gehrings und Sara Fazilats Spielfilmdebüt "Nico".

Von Sofia Glasl

Heil wirkt die Welt, durch die die Altenpflegerin Nico radelt. Auf dem Weg zur Arbeit hat sie Freude an unbeschwerten Schlangenlinien, hebt die Füße weit über die Pedale, wenn sie durch Pfützen rollt und lässt ihre Haare in der leichten Brise wehen. Sie nimmt das Leben mit Humor und kann sich eigentlich ganz gut selbst helfen. Als eine Frau sie von hinten mit dem Auto wüst schimpfend bedrängt, weil sie nicht an ihr vorbeikommt, bleibt Nico stehen, schnauft kurz durch, nimmt in Seelenruhe einen pink glasierten Donut aus ihrer Bäckertüte und klatscht ihn mit zufriedenem Lächeln auf die Scheibe des Sekretärinnenflitzers.

Regisseurin Eline Gehring hängt diesem Moment der Selbstwirksamkeit noch genau so lange nach, dass ein verzweifelt quietschender Scheibenwischer den Gebäckmatsch über das Autofenster schmieren kann. Und gewiss ist - ein Film über diese junge Frau, der könnte komisch werden. Wie Frances Ha auf der Suche nach ihrem Platz in der Welt ungestüm durch New York rannte und sprang, könnte Nicos Geschichte ein Berliner Pendant werden. Routinen in ihrem Job als ambulante Altenpflegerin wirken vertraut und einige der Seniorinnen sind zu großelterlichen Freunden geworden. Etwa die meist leicht angedüdelte Brigitte, die bei einem Gläschen Eierlikör von den Männern erzählt, mit denen sie Affären hatte, wenn sie auf Kur war. "Du hattest jedes Mal einen Kurschatten? Brigitte! Du altes Luder!" jauchzt Nico.

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Die Filmemacherinnen Eline Gehring, Francy Fabritz und Sara Fazilat, die auch die Hauptrolle spielt, haben ihr Debüt schlicht nach ihrer Protagonistin benannt: "Nico" feierte 2021 auf dem Max Ophüls-Festival Premiere und ist einer der berührendsten Filme des deutschen Kinojahrs. Unter der unbeschwerten Oberfläche erzählen die Filmemacherinnen aufmerksam von Generationenkonflikten, Alltagsrassismus und Traumabewältigung, manövrieren Nico jedoch vorbei an einem stereotypen Rührstück.

Mit ihrer Freundin Rosa streift Nico nach Feierabend durch den Sommer und palavert in buntem Kauderwelsch aus Berlinerisch und Farsi darüber, ob islamische Frauen mit Kopftuch alle feministischen Bemühungen zunichte machen. Sie schnappen dann allerdings Gesprächsfetzen verschleierter Passantinnen auf: ob Dildos und Vibratoren auch halal seien. Die beiden lachen über ihre dogmatischen, weil irgendwie eingedeutschten Abwägungen.

Wie Rocky Balboa tigert die Protagonistin durch die Stadt

Mit solch beiläufigen Momenten fächern die Filmemacherinnen das fluide soziale Gefüge auf, in dem Nico sich bewegt, vermeintlich ungestört zwischen ihren persischen und Berliner Wurzeln, zwischen Jung und Alt, zwischen den Geschlechtern. Diversität ist hier eine beiläufige Selbstverständlichkeit, die im deutschen Kino noch rar ist. Sie fällt angenehm auf, weil das oft verkrampfte Abhaken von auf dem Papier gesteckten Zielen nicht notwendig ist.

Deshalb sitzt dann der Magenschwinger auch beim Zuschauen besonders gut: Nico wird auf der Straße rassistisch angegriffen und krankenhausreif geschlagen. Ihre heile Welt gerät ins Ungleichgewicht. Nie wieder will sie Opfer sein, so viel steht fest. Und deshalb geht sie ins Karate-Dojo, um sich abzuhärten. Wie Rocky Balboa tigert sie nun im grauen Kapuzenpulli durch die Stadt, den Stoff weit in die Stirn gezogen, um ihre blauen Flecken zu verstecken. Wenn sie nur lernt, möglichst hart zuzuschlagen, wird es ihr auch psychisch besser gehen, so die Logik. Doch die physische Abhärtung überträgt sich auch auf ihre Seele. Was bleibt, ist eine hilflose Wut, an der Rosa wie Brigitte gleichermaßen abprallen.

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Oft hat sie die sonst von einem Lächeln umspielten Augen weit aufgerissen, ob vor Angst oder Wut, ist nicht immer erkennbar. In Wellen schwappen diese über Nico herein und blenden alles andere aus. Nur langsam dringt Karate-Trainer Andreas zu ihr durch: Selbstdisziplin ja, aber um im Sport wie im Alltag weiterzukommen, muss sie innerlich loslassen können, um sich nicht selbst zu blockieren. Sara Fazilat lässt diese tief verunsicherte Frau eindringlich zwischen stiller Verzweiflung und Aggressionen schweben und ihre Vorstellung einer diversen und offenen Gesellschaft hinterfragen. Man sieht ihr den inneren Kampf an, den sie eigentlich nicht führen will. Ihr Weg aus dem Trauma ist keine geradlinige Erfolgsgeschichte, sondern ein unberechenbarer Prozess.

So durchlässig Gehring und ihre Kolleginnen Stereotype über Pflegepatientinnen, Kopftuchträgerinnen und andere Klischees machen, so durchlässig ist auch ihr eigener Film: Laien spielen Nicos Patienten, der ehemalige Zuhälter und Profikampfsportler Andreas Marquardt den väterlichen Karate-Lehrer, und so werden aus dieser Filmwelt immer wieder halbdokumentarische Bilder.

Nicos Geschichte ist eben kein Märchen, sondern Realität. Gehring, Fazilat und Fabritz beleben ihre oft dogmatisch verfahrene Welt, indem sie diese dazu zwingen, sich immer neu arrangieren und flexibel zu bleiben. Rückschläge sind dann auch kein Scheitern, die Welt bleibt trotz allen Ernstes durchlässig für hoffnungsvollen Humor und Wohlwollen.

Nico , Deutschland 2021 - Regie: Eline Gehring. Buch: Sara Fazilat, Eline Gehring, Francy Fabritz. Mit: Sara Fazilat, Javeh Asefdjah, Sara Klimoska, Andreas Marquardt. UCM.ONE, 79 Minuten. Kinostart: 12. Mai 2022.

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