Süddeutsche Zeitung

Poetologien:Summen am Rande

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Wann beginnt einer zu dichten? Der Lyriker Nico Bleutge beobachtet sich und andere in seinem Essayband "Drei Fliegen".

Von Christoph Bartmann

Dichtung ist Wettbewerb oder kann es jedenfalls sein, vom antiken Dichterwettstreit bis zum heutigen Poetry Slam - wozu es in der Regel eines Publikums bedarf, das anspricht oder auch nicht. Nico Bleutges poetologischer Essayband "Drei Fliegen" ruft einem diese agonale Grundbestimmung der Poesie deshalb in Erinnerung, weil sie bei ihm gänzlich fehlt.

Die Dichterinnen und Dichter, lebende oder tote, sind hier keine Rivalen, sondern Freunde, eher noch Verwandte. Sie schreiben, denkt man, für sich selbst und für andere, die wiederum für sich selbst schreiben. Es ist eine große, freundliche Dichter-Ökumene, die Bleutge in seinen gesammelten Texten aufruft, von Elizabeth Bishop bis Marion Poschmann, Marcel Beyer bis John Ashbery, Friederike Mayröcker bis Elke Erb. Ihren Gedichten widmet der Lyriker Bleutge einfühlsame und konzentrierte Lektüren, die keine Interpretationen sein sollen, sondern eher vielleicht Nachverfolgungen poetischer Prozesse. "Über Gedichte" heißt der Band im Untertitel. Über bestimmte Gedichte, sollte man vielleicht hier einschränken. Nicht die Rede ist hier von Gedichten, die man humoristisch nennen könnte, oder solchen, die man auch singen kann oder zu denen man tanzen will, weil Reim und Rhythmus dazu auffordern.

Die Lyrik, von der Bleutge handelt und die er selber schreibt, ist eine vertrackte Angelegenheit. Sie hat Erlebnisse und Eindrücke zum Ausgangspunkt, die, mit einem von Bleutges Lieblingswörtern, "subkutan" sind, mikrologisch, unscheinbar, kaum zu fassen. Keinesfalls sollte man Bleutges Poetik und die seiner Gewährsleute mit dem älteren Schlagwort "sprachexperimentell" zu beschreiben versuchen. Das Experimentelle beginnt hier schon in sozusagen sub-inhaltlichen Aufmerksamkeiten für die Welt, die zwar immer schon Sprachwelt ist, aber immer und zuerst in ihrer Gegenständlichkeit erfahren und untersucht wird. Die titelgebenden und überhaupt dauerpräsenten Fliegen geben für diesen Schreibimpuls ein Beispiel.

Das Schreiben ist hier eine stille Kollision mit der Welt

Beim Lesen von Gedichten, heißt es "bewegte sich plötzlich etwas am Rand meines Gesichtsfeldes, und ein leises Summen wurde hörbar. Eine Fliege krabbelte über die aufgeschlagenen Bücher." Die Ablenkung ist willkommen, und auf sie kommt es an. Mit der Fliege vor den Augen und im Sinn spürt der Autor eigenen Fliegen-Erinnerungen nach, erinnert sich an gelesene Fliegen-Texte und entdeckt in der kindlichen Praxis des Fliegenbeobachtens und -klassifizierens bestimmte Strukturmomente des eigenen Schreibens wieder: "Ist nicht dieses behutsame Beobachten und Studieren", fragt er sich, "das Hin-und-Her-Wenden, Betasten und Warten, etwas dem Schreiben, etwas meinem Schreiben Verwandtes?" Bleutge spricht sich für eine Literatur aus, in der "das Feuer einer Beobachtung", "das Aufblitzen einer Ähnlichkeit, die Lust an einem Vergleich" und damit insgesamt die "Einbildungskraft" sich den immer drohenden "Verfestigungen" durch Allgemeinbegriffe widersetzen.

Was Bleutge postuliert, ist ein von den Begriffen und Konventionen noch nicht verunreinigter Schreibakt der Anfänglichkeit, des Werdens und der stillen Kollision mit der Welt. Bleutge ist ohne Frage ein guter Anwalt in eigener und in der Sache seiner Gewährsleute. Was ist aber mit all denen, die anders Gedichte schreiben, vielleicht sogar unter Zuhilfenahme von Begriffen, wenn sie nötig sind, und die dafür ebenfalls gute Gründe haben? Nicht immer führt ja die wahrnehmungsintensive Schreibsituation zu lyrisch zwingenden Ergebnissen, und nicht immer ist Bleutges Sprache selbst gefeit gegen, nun ja, "Verfestigungen" und schiefe Bilder, etwa wenn er in der Würdigung des Dichters Gunnar Ekelöf schreibt: "Sein poetischer Mörtel entfaltet am Ende eine ganz eigene Wirkung, vergleichbar einer Strahlung, die dem Gedicht zukommt." "Poetischer Mörtel" allein ist großartig, aber kann man wirklich den Mörtel mit einer Strahlung "vergleichen"?

Manchmal verfällt Bleutge auch bei Würdigung der Texte anderer in eine Art Andachts-Furor, so etwa, wenn er zu Ulrike Draesner schreibt: "Ulrike Draesners Erzählerin siedelt nah an der Autorin. Seit sechzehn Jahren kommt sie auf die Insel. Ungezählte Besuche. Mit ihrem Partner, Zusammensein zu zweit. Dann allein, die Beziehung zerbricht. Das Älterwerden. Ein Kind nun." So geht es noch eine Weile weiter, Volker Weidermann hätte es nicht schöner hinbekommen. Vielleicht ist das auch die Crux einer poetischen Schreibart, in der Komik fast nur als unfreiwillige in Erscheinung treten darf: "Beim Laufen durch Istanbul stößt Barbara Köhler immer wieder auf vielschichtige Muster. Schon beim Anflug auf die Stadt, den Kopf ans Fenster gelehnt, hat sie die reine Unverständlichkeit eines Ornaments aus Straßenlinien und Häusern bestaunt." Solche oft ausführlichen Nachvollzüge der Beobachtungen anderer lösen den immanenten Anspruch, dass es dabei um regelrechte Durchbrüche im Feld der ästhetisch-poetischen "Forschung" ginge, nicht immer ein. Aber das ist vielleicht auch den wechselnden Anlässen geschuldet, zu denen Nico Bleutge lobende Reden verfasst hat.

Unbedingt lesenswert sind dagegen die Texte, die der Autor eigens für diesen Band verfasst hat, oft Kindheitsrecherchen wie etwa jene in "Balkon". Ein Satz bleibt darin unvergesslich, der etwas sagt über Bleutges poetisch-poetologische Qualitäten. An den Besuch bei den Großeltern am Rhein erinnert sich der Erzähler wie folgt: "Der Zug ließ erst vor der Haustüre nach. Meine Fingerkuppe passte genau in die Mulde des Klingelknopfes." Mit Begegnungen wie der zwischen Fingerkuppe und Klingelknopfmulde fängt für Bleutge die Dichtung an.

Nico Bleutge: Drei Fliegen. Über Gedichte. C.H. Beck Verlag, München. 327 Seiten, 24 Euro.

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