Süddeutsche Zeitung

Nick Cave in Montreux:Geht übers Wasser

Nick Cave gibt zusammen mit den "Bad Seeds" ein mitreißendes, verstörendes und herrlich anstrengendes Konzert beim Jazz Festival in Montreux.

Von Egbert Tholl

Zu einem Zeitpunkt, an dem einem längst die Ohren dröhnen, der Rücken schmerzt, die Beine weh tun und man sich psychosomatisch in einem Zustand befindet, den man schon lange nicht mehr so erlebt hat, ruft eine Frau vom Balkon: "You are a living hero!" Ob nun jemand gleich ein Held ist, wenn er knapp zweieinhalb Stunden lang von Leid und Sehnsucht, von der Gier nach Leben und der Angst davor singt und noch von vielen anderen, ganz großen, allerletzten Dingen, sei dahingestellt. Entscheidend ist allein, dass es die unbekannte Frau so empfindet. Und an diesem Abend ganz sicher nicht allein damit ist.

Nick Cave ist wieder auf Tour. Vor ein paar Tagen spielte er vor 21 000 Menschen in der Berliner Waldbühne, nun vor "nur" 4000 im "Auditorium Stravinski" beim Jazz Festival Montreux. Dieses ist ja schon längst kein Jazz-Festival mehr, das war es vielleicht ganz am Anfang; vielmehr ist es ein überbordendes Fest jeder Art von populärer Musik, viele Stars sind hier zu Gast, die Uferpromenade ist voll mit kleinen Bühnen, überall tönt und dröhnt es. Und überall sind ungeheuer viele Menschen, hier gibt es keinen Gedanken mehr an ein Virus, auch der Saal, in dem Cave und seine Band, die Bad Seeds spielen, ist fast schon bedrohlich gefüllt.

Zwischen Vorband und Nick Cave: Werbepause für vegane Fleischprodukte

Der "Hero" lässt auf sich warten. Erst spielt Emilie Zoé, eine in der Schweiz vielfach ausgezeichnete Post-Metal-quasi-Punk-Sängerin und Gitarristin, deren ekstatische Attitüde wundervoll ist, was man von ihren eigenen, überschaubaren Songs nicht behaupten würde. Eines aber fällt auf: Vorbei sind offenbar die Zeiten, in denen die Vorband miserabel ausgesteuert wurde und man ihr eine trübe Grubenlampe zur Beleuchtung hinhängte.

Danach folgt auf den Videoleinwänden, die stets nur der Vergrößerung der Musikanten dienen, eine Werbepause (für vegane Fleischprodukte), schließlich quält sich Cave auf die Bühne - und explodiert. Mit einer Gier nach Leben, mit Songs wie "Get Ready for Love" oder dem Erflehen der eigenen "Beautiful World". Alles gut, alles Rock`n`Roll. Zwei Lieder lang. Dann greift Nick Cave auf das allererste Album der Bad Seeds zurück, spielt "From Here to Eternity", und es geht los, "Cry, cry, cry", riesig vergrößert zu einem symphonischen Lärm-Crescendo.

Die folgenden zwei Stunden sind in ihrer Ambivalenz so ziemlich das Überbordendste, was man sich im darstellenden Musikgeschäft vorstellen kann. Darstellen stimmt: Cave ist der im Verlauf der insgesamt zweieinhalb Stunden an den Nerven zerrende Prediger, der im dunklen Dreiteiler an der Rampe steht, die Absätze an der Kante einhakt, sich ins Publikum lehnt, sich auf die ihm zugereckten Hände aufstützt. Er ist der vollkommen in sich gekehrte Schmerzensmann, der allein am Klavier sitzt - seine Lebensgeschichte aus Drogen und dem Verlust zweier Söhne legitimiert hier alles. Und vor allem ist er der Spieler, der Entertainer, der Dirigent einer perfekt funktionierenden Band, herrisch, großartig. Jeder Song wird, unter entschiedener Mithilfe des Multifunktionszausel Warren Ellis, zu einem Eskapismus der Unabdingbarkeit vergrößert, er hat einen extremen Mitteilungsdrang in seinem Flehen und seinem Hoffen. "I Need You!" Das meint er ernst.

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