Nicht die Haare raufen:Tut Muße!

Nicht die Haare raufen: Welches Buch bietet Trost, welcher Film beruhigt die Nerven, welches Kunstwerk weitet den Blick? Empfehlungen des Feuilletons.

Welches Buch bietet Trost, welcher Film beruhigt die Nerven, welches Kunstwerk weitet den Blick? Empfehlungen des Feuilletons.

(Foto: SZ)

Die Schriften der antiken Stoiker, vor allem Mark Aurels, haben eine wachsende Reproduktionsrate.

Von Johan Schloemann

"Wie? Nennst Du der Muße ergeben die, welche stundenlang in der Barbier- und Friseurstube zubringen, wo sie sich den Bartwuchs der letzten Nacht abnehmen lassen, wo über jedes Härchen Rat gehalten, wo jede Verschiebung des Haares ausgeglichen und bloßgelegte kahle Stellen durch Streichen der Haare nach vorne wieder zugedeckt werden?"

Das schreibt der römische Philosoph Seneca in seiner Schrift "Über die Kürze des Lebens". Die Öffnung der Friseurläden hat für Seneca, ganz klar, keine Priorität. Das ist zwar leicht gesagt, wenn es nur um den männlichen Bart und die Pflege einer Glatze geht, das kriegt man ja zur Not auch alleine zu Hause hin. Aber für das mentale Training, das zur richtigen Einübung der Muße führt, muss man sich offenbar insgesamt von der Frisurenfrage möglichst frei machen. Ja, das Wachsenlassen, das jetzt einige Personen des öffentlichen Lebens in den letzten Wochen zunehmend wie antike Philosophen aussehen ließ, gehört zum amor fati, also zur positiven Annahme des Schicksals.

Die Stoiker sind die passende Ratgeberliteratur in Zeiten von Unsicherheit, Bedrohung und Isolation. Die in Athen gegründete antike Denkschule der Seelenruhe und Selbstbescheidung gehört - besonders in ihrer späteren Entfaltung in den erhaltenen Schriften aus der römischen Kaiserzeit - schon seit einigen Jahren zum erfolgreichen Sinnsortiment einer populären Lebenshilfe-Philosophie, die wachsende Gefühle von Kontrollverlust kurieren will. Erst recht dient sie nun zur Coronalektüre.

Die gedruckte Ausgabe der "Selbstbetrachtungen" des Philosophenkaisers Mark Aurel beim englischsprachigen Penguin-Verlag hat sich, das berichtet der Guardian, im ersten Quartal des Jahres um 28 Prozent mehr verkauft als im Vorjahresquartal. Senecas "Moralische Briefe an Lucilius" fanden unter dem Titel "Letters from a Stoic" 42 Prozent mehr Absatz. Und deren E-Book-Ausgabe erreichte in den vergangenen vier Wochen sogar 356 Prozent Zuwachs. Auch Twitter-Accounts wie "Daily Stoic" oder Online-Kurse wie "Modern Stoicism" sind gerade beliebt.

Die Reproduktionsrate des Stoizismus ist also hoch, auch wenn man bei Ländervergleichen wie immer noch ein wenig vorsichtig sein muss. Bei Mark Aurel - der empfiehlt, das Glück nicht in Ausflügen zu suchen, sondern indem man sich zwischendurch "in sich selbst zurückzieht" - verzeichnet der deutsche Reclam-Verlag immerhin auch schon "leichte Steigerungen". Bei Seneca bleibt die Kurve in Stuttgart aber derzeit noch flach.

Alles bleibt ungewiss, und so hilft nur der Rat der Stoiker, konzentriert nachzudenken und zu sortieren, worüber man Kontrolle hat und worüber nicht. Das eher naive stoische Systemvertrauen passt zwar nicht recht zur Hoffnung auf die Dynamik einer hoch technisierten Medizin. Aber es lehrt immerhin, sich nicht die Haare zu raufen.

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