Nicholson Baker: "Menschenrauch":Menschen mögen Krieg

Der Untergang der Zivilisation beginnt lange vor Hitler und hält dank Churchill bis heute an: Nicholson Bakers Buch sorgt für Empörung - und trifft den wichtigsten Nerv der westlichen Kriegspolitik.

Gustav Seibt

Mit mehr Wut ist schon lange kein Werk der Literatur mehr begrüßt worden. Ein Buch für die Feinde der Demokratie hat Daniel Kehlmann Nicholson Bakers historische Collage "Menschenrauch" genannt; von "Häppchenhistorie" sprach Hans-Ulrich Wehler; Anne Applebaum, die verdiente Historikerin des Gulag, begreift das aus Originalquellen von 1892 bis 1941 zusammengefügte Werk Bakers als bizarres Resultat einer anti-professionellen, verschwörungstheoretisch infizierten Internetkultur, die aus einem Meer unsortierter und ungeprüfter Informationen regelrecht geisteskranke Gegengeschichten zum offiziellen Wissen zusammenbraut:

Nicholson Baker: "Menschenrauch": "Erst die Arbeit, dann das Vergnügen!" Mit diesem Spruch kommentierte Winston Churchill einst seinen Wunsch, erst die deutschen Industrieanlagen, dann die Zivilisten zu bombardieren.

"Erst die Arbeit, dann das Vergnügen!" Mit diesem Spruch kommentierte Winston Churchill einst seinen Wunsch, erst die deutschen Industrieanlagen, dann die Zivilisten zu bombardieren.

(Foto: Foto: dpa)

Jesus hat mit Maria Magdalena eine Familie gegründet, und Churchill ist mitschuldig am Zweiten Weltkrieg. Nicholson Baker als Dan Brown der Zeitgeschichte.

Lange vor Hitler

Was hat Baker, dieser subtile Erzähler, nach John Updikes Tod der Letzte in der Schule von Proust und Nabokov, getan? Er hat auf 500 Seiten etwas mehr als 1000 historische Quellen, Zitate aus Zeitungen, Tagebüchern, Memoiren, Reden, Tischvorlagen, also allen Genres nichtfiktionaler Rede, chronologisch aneinander gereiht. Die Serie beginnt 1892 mit Alfred Nobels Hoffnung, die zerstörerische moderne Waffentechnik werde künftig Kriege verhindern, und sie endet am 31. Dezember 1941 mit einem verzweifelten Tagebucheintrag des todgeweihten rumänischen Juden Mihail Sebastian.

Am Anfang hüpft die Reihe rasch über die Jahre, verweilt kurz beim verheerenden Ende des Ersten Weltkriegs, wo mit den kühl erwogenen Möglichkeiten von "Aushungerung" und Giftgas schon der totale Krieg der Zukunft vorweggenommen wird, sie gewinnt Dichte in den Krisen der dreißiger Jahre und wird in den Kriegsjahren von 1939 bis 1941 kompakt und schwarz wie ein Tagebuch des Untergangs: "Das Ende der Zivilisation" diagnostiziert Bakers Untertitel, der "Menschenrauch" verbrannter Leichen, den deutsche KZ-Häftlinge rochen, bezeichnet den Abschluss.

enseits aller Thesen macht Bakers Material eine Eskalation sichtbar, eine schier unaufhaltsame Drift, die schon lange vor Hitlers Aufstieg einsetzt und alle Gesellschaften der westlichen Zivilisation erfasst hat. Es ist eine Eskalation der Barbarei, die mit den anwachsenden Vernichtungsmöglichkeiten moderner Waffentechnik Schritt hält.

Aus dem Versteck der Zusammenhänge

Briten und Italiener finden schon in den zwanziger und dreißiger Jahren nichts dabei, ganze Völker in ihren Kolonien mit Bomben und Gas exemplarisch so einzuschüchtern, dass eigene Verluste nicht mehr zu befürchten sind. Des weißen Mannes Kriegslast ist leichter als die des dunkelhäutigen. "Ich spreche mich ausdrücklich für den Einsatz von Giftgas gegen unzivilisierte Völker aus":

Solche Sätze - dieser wurde von Winston Churchill 1920 geschrieben - muss man aus den Verstecken ihrer Zusammenhänge reißen dürfen, wenn man verstehen will, was in Europa im 20. Jahrhundert geschehen ist.

Lesen Sie weiter auf Seite 2, warum der Autor Pazifist ist.

Menschen mögen Krieg

Man hat Bakers Verfahren mit Walter Kempowskis großen Echolot-Collagen verglichen und allzu schnell Parallelen gefunden. Die Unterschiede sind aber interessanter. Kempowski arbeitet mit Gleichzeitigkeiten, er knüpft Teppiche aus Quellen und Stimmen, die sich auf ausgewählte Momente - etwa die Schlacht von Stalingrad - konzentrieren. Daraus entstehen dichte, in sich vielfältige, an Widersprüchen reiche Beschreibungen, die sich zu einem Chor fügen. Zeit wird, soweit das im Medium der Literatur möglich ist, verräumlicht.

Baker hingegen stellt keinen Teppich mit tausend Fäden vor, sondern eine Reihe, einen langen, aus einzelnen Fäden zusammengewundenen Strick, erst dünn, dann dick, im Kern aber diskontinuierlich, eine Abfolge von tausend Momenten, uhrwerkhaft skandiert mit Zeitangaben: Es war der 8. Mai 1941 und so fort.

Das Schicksal wenden

Auch Historiker, die dem modernen Erzählen fernstehen, sollten Fragen der Zeitstruktur ihre Aufmerksamkeit schenken. Wo bei Kempowski der Eindruck überwältigender tragischer Notwendigkeit steht - der eines Mahlstroms -, konstruiert Baker eine Zeitreihe, die jeden Moment offen erscheint, ja den Sprung hinaus erlauben könnte. In jedem Augenblick könnten die Handelnden, so suggeriert es diese Zeitform, das Schicksal wenden, sich besinnen und das Unheil verlassen. Der Strahl der Erlösung ist immer bereit. Bakers Springen und Hüpfen von Moment zu Moment im Ablauf der tickenden Weltuhr kennt keine Notwendigkeit über das bloße Voranschreiten der Zeit hinaus.

Für Historiker ist das schwer erträglich. Denn ihre Arbeit dient dem Ziel, das große, von den tiefen Bässen der Struktur grundierte Legato der Erzählung zu gewinnen: Mag diese von Schrecklichem berichten, ihrer Sinnfülle, ihrer inneren Notwendigkeit tut dies keinen Abbruch.

Steht auf und kehrt um!

Bakers Erzählerbewusstsein beim Anordnen der Quellen ist das eines Erweckungspredigers: Steht auf und kehrt um, hier und sofort, denn es ist möglich; die Reihe der Zeit kann eine neue Richtung nehmen. Hier spricht, mit einem Wort, ein Pazifist. Baker, der sich in diesem Buch als Erzähler stets nur in wenigen Zeilen selbst zu Wort kommen lässt, lässt im Nachwort alle Indirektheit fahren und spricht es aus: Die Pazifisten waren die Einzigen, die recht hatten in dieser Steigerung des Grauens hin zum Verbrennen von Menschen. Pazifisten müssen, wenn sie konsequent sind, schier übermenschlichen Mut zeigen, denn ihre Waffe ist die Wehrlosigkeit. Mutig ist es, den Pazifismus gedanklich an dem Gegenstand zu erproben, der ihm den härtesten Widerstand bietet, dem Krieg gegen Hitler.

Baker kann sich über die Aggressionen, die sein Versuch vor allem bei englischen und amerikanischen Lesern auslösen würde, keiner Täuschung hingegeben haben. Zu eingefahren ist die Logik der Gegenrechnung, die glaubt, wenn der eine Kriegsteilnehmer böse sei, werde der andere von sich aus gut, oder das eine Verbrechen schwäche das andere ab. Aber so ist Bakers Logik nicht, hier gilt eben nicht, dass des einen Auschwitz des anderen Dresden sei.

Entsetzen und Erbarmen

Bakers Entsetzen, besser sein Erbarmen, ist allumfassend, und es verweigert sich dem langwierigsten Erbe der Hitlerzeit: über Grausamkeiten, die unterhalb des Holocausts liegen, nicht mehr recht erschrecken zu können.

Wenn Baker belegen kann, wie gleichgültig Churchill und Roosevelt das Schicksal der Juden war, wenn er zeigt, dass die bald erwiesene Sinnlosigkeit des "moral bombing" gegen die Zivilbevölkerung der Freude der Generäle an diesen wahllosen Angriffen keinen Abbruch tat, dann nimmt er kein Jota weg von der Scheußlichkeit, die industrielles Töten von Menschen erst mit Autoabgasen, dann mit Insektengift bedeutet.

Lesen Sie weiter auf Seite 3, wie der wichtigste Nerv aller westlichen Kriesgpolitik getroffen wurde.

Menschen mögen Krieg

Das ist die allgemeine, gewissermaßen anthropologische Ebene, man mag sie auch die christliche, quäkerhafte nennen. Aber Baker schreibt nicht nur einen Klagegesang mit einem verzweifelten Blick auf den Erlöserhimmel. Er spielt auch mit Möglichkeiten, die auf kontrafaktische Erwägungen hinauslaufen:

Hätte das Leben ungezählter Juden durch Kompromisse mit den Nazis nicht gerettet werden können? Eine Zeitlang favorisierten die Führungszirkel des Dritten Reiches Auswanderungslösungen, und erst, als sowohl die Überseeoptionen (meist verbunden mit dem Begriff Madagaskar) als auch - nach der Kriegswende in Russland 1941 - die Räume jenseits des Urals versperrt waren, wurde die schrecklichste Möglichkeit, die fabrikmäßige Vernichtung, verwirklicht.

Wer solche Fragen als Verharmlosung Hitlers und seiner Vollstrecker versteht, liest böswillig. Bakers Frage ist die eines verzweifelten, alle Möglichkeiten prüfenden Menschenretters; man mag sie unpolitisch nennen, naiv, aber sie ist gewiss nicht infiziert von der Barbarei, die sein Buch vorführt. Soll die Frage, ob man fünf oder sechs Millionen Gaskammertoten das Leben hätte retten können, von historischer Erörterung ausgeschlossen werden?

Der Titan genießt das Spiel

Bleiben wir bei der Literatur. Der eigentliche Gegner des Buches "Menschenrauch" ist Winston Churchill, der faszinierendste Kriegsherr, Kriegsredner und Kriegshistoriker, den die demokratische Welt bisher hervorgebracht hat. Das ist der Titan, an dem Baker sich misst.

Churchill ist ein Heros archaischer Statur: ein Agamemnon, der am Ende sogar seine eigene Tochter opfern würde, hier das britische Weltreich; der auflebt im Kampf, der das große Spiel genießt: Erst solle man die deutschen Industrieanlagen bombardieren, dann die Zivilisten, erklärt er, und mehrfach schiebt er den Spruch hinterher: "Erst die Arbeit, dann das Vergnügen!"

Blutrünstig ist Churchill wie nur je ein Großer, hier nur eingeholt von Friedrich dem Großen oder Napoleon oder, zu Zeiten, auch Bismarck. Churchill ist auch der literarische Widerpart Bakers. Als Rhetor und Historiker ist er barock, pathetisch, hysterisch, ein Mann der gleißenden Effekte und der großen Durchblicke. Sein Wort war Donnergrollen.

Die Kampfmoral

Alle Churchill-Zitate entfalten in diesem Buch immer noch mitreißende Wirkungen. Hitler wirkt daneben wie ein Kläffer, bösartig, krank, halb effeminiert, halb Sadist. Bakers eigener Ton, sanft, bohrend, franziskanisch, litaneihaft mit einem Beiklang traurigen Spotts ist der heroische, pazifistische Versuch, sich von den Sprachen der Gewalt nicht anstecken zu lassen.

Churchill hat durch sein Duell mit Hitler der westlichen Welt das Beispiel und die Kampfmoral hinterlassen, die bis heute Luftkriege und Embargos motivieren. Baker blickt hier unverkennbar auf die Fortwirkung in gegenwärtigen Entscheidungen wie zuletzt beim Irak-Krieg. Die Empörung, die ihm entgegenschlägt, hat auch damit zu tun, dass er den wichtigsten historischen Nerv aller heutigen westlichen Kriegspolitik berührt.

Kaum etwas von dem, was Baker vorführt, ist unbekannt. Sein Material ist, wenn man von Zeugnissen des vor allem religiös geprägten amerikanischen Pazifismus absieht, das geläufige: Victor Klemperer, Mihail Sebastian, Harold Nicolson, Christopher Isherwood, Gandhi, Papst Pius XII., Roosevelt, Churchill, Hitler, Göring, Goebbels, Graf Ciano. Wer sich überhaupt mit dem 20. Jahrhundert beschäftigt hat, wird wenig Neues, schon gar kein obskures Geheimwissen entdecken, keinen Internetwust, sondern die Früchte einer gut sortierten, aber eher kleinen Bibliothek.

Am Ende exponiert sein Buch allerdings eine Menschennatur, die dem Pazifismus wenig Raum lässt. Baker selbst zitiert einen gutwilligen pazifistischen Text von 1935, der die Überschrift "Menschen mögen Krieg" trug - was gewiss nur die halbe Wahrheit ist, das aber schon.

Von der Lust, Deutsche umzubringen

Zu dicht sind auch die Zeugnisse gerade von Intellektuellen, die Baker zu Wort kommen lässt: Ob Frank Lloyd Wright von den durch die Flächenbombardements eröffneten Möglichkeiten für Architekten schwärmt, ob Wystan Austen seine Lust, Deutsche umzubringen, bekennt, ob Einstein "hartes Zuschlagen" verlangt. Die Menschheit muss immer wieder an den von Roosevelt formulierten, aber auch von ihm gebrochenen Grundsatz erinnert werden, "dass niemand für die Taten eines anderen bestraft werden darf".

Bakers messianischer Blick schaut auf die feingliedrige Kette der Zeit. Die Gegenposition hat mit dem kalten Churchill-Blick übers ganze Jahrhundert im Jahre 1967 Sebastian Haffner in seiner Biographie des britischen Staatsmannes formuliert. Hätte England 1940/41 jenen kurzfristig vielleicht wohltätigen Separatfrieden mit Hitler geschlossen, den Churchill mit eiserner Entschlossenheit ablehnte, dann wäre es, so Haffner, "durchaus vorstellbar, dass heute ein achtundsiebzigjähriger Hitler über einem großgermanischen Staat thronen würde, der vom Atlantik bis zum Ural oder darüber hinaus reichte".

Wobei, so Haffner weiter mit kühler Abwägung, durchaus die Möglichkeit bestünde, dass auch das British Empire überlebt hätte. Aber was wäre das für eine Welt! Und wie groß wäre im Lauf der Jahre die Summe ihrer Toten geworden?

Freilich, solche Überlegungen lassen sich weder beweisen noch widerlegen. Geschichte lässt sich nicht experimentell erproben. Auch kann man nie sicher sein, ob man, geprägt von dem einen Fall, nicht immer wieder einen Hitler zu viel erkennt. Am Ende muss jeder Leser die Frage für sich beantworten, wer recht hat: Nicholson Baker oder Winston Churchill.

Der Sieger Churchill wurde 1945 von seinem Volk wieder abgewählt und nach Hause geschickt. Für diese Möglichkeit war der unermesslich grausame Krieg geführt worden.

NICHOLSON BAKER: Menschenrauch. Wie der Zweite Weltkrieg begann und die Zivilisation endete. Aus dem Amerikanischen von Sabine Hedinger und Christiane Bergfeld. Rowohlt Verlag, Reinbek 2009. 615 Seiten, 24,90 Euro.

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