Netzkolumne:Geheime Fragen über Haustiere

Netzkolumne: Jetzt auch mit einer Funktion für geheime Nachrichten: das soziale Netzwerk Instagram.

Jetzt auch mit einer Funktion für geheime Nachrichten: das soziale Netzwerk Instagram.

(Foto: Catherine Waibel/dpa-tmn)

Die neue App NGL ermöglicht, anonym Nachrichten auf Instagram zu tauschen. Ein Blick in den Programmcode wirft allerdings Fragen auf.

Von Michael Moorstedt

Vor nicht allzu langer Zeit sah es so aus, als könne sich die Authentizität durchsetzen. Facebook leistete Pionierarbeit mit dem Konzept des Single-Identity-Networking, der Idee, Online-Aktivitäten zu einem echten Namen zurückzuverfolgen. Zahlreiche andere Unternehmen sprangen auf den Zug auf. Die Tage des Versteckens hinter Pseudonymen schienen gezählt. Dass man auf diese Weise mit seinem echten, also analogen Selbst für sein Treiben im Netz einzustehen hat, werde dazu führen, dass sich Menschen verantwortungsvoller verhalten, hieß es.

Zumindest der letzte Punkt ist heute entkräftet. Im Jahr 2022 schreiben Menschen unter ihrem Klarnamen die abwegigsten Verschwörungsgeschichten. Ad-Hominem-Attacken von der beruflichen E-Mail-Adresse oder dem Social-Media-Profil, in dem das ganze Leben öffentlich ausgestellt wird, sind digitaler Alltag. Die Zündschnur der Leute ist eher kürzer geworden als länger.

Wenn also eine Quasi-Rechenschaftspflicht nicht nützt, vielleicht kann man sich dann wieder auf die Vorzüge der Anonymität konzentrieren, die ja auch eine Flucht vor der sozialen Kontrolle durch die sozialen Netzwerke verspricht. Ist sie vielleicht sogar Voraussetzung dafür, dass tiefgehende Gespräche zustande kommen, dass Menschen sich öffnen und sich gleichzeitig selbst treu bleiben?

Anonymität, so befand unlängst das Magazin The Atlantic, sei "wieder in". Als aktueller Beleg dient NGL, eine neue App, mit der Nutzer auf Instagram anonyme Nachrichten senden und empfangen können.

Neu ist das nicht. Bereits vor einigen Jahren gab es einen ganzen Schwung ähnlicher Programme, die inzwischen wegen Belästigungs- und Mobbingvorwürfen aber wieder von der Bildfläche verschwunden sind. Woher kommt also der aktuelle Hype? Vielleicht liegt es daran, wie sich das Nutzerverhalten in den vergangenen Jahren gewandelt hat. Wer sonst nur algorithmisch servierte Inhalte gewohnt ist, für den verspricht eine unverhoffte Nachricht einen gehörigen Dopamin-Kick, vor allem wenn es auch noch darum geht, für gut befunden zu werden oder zumindest irgendeine Art von Interesse zu erwecken.

15 Millionen Menschen haben sich das Programm weltweit bereits heruntergeladen. Teenager scheinen dabei wieder einmal die Trendsetter zu sein. Um die eigene Relevanz zu beweisen, machen einige von ihnen die im Geheimen geschickten Fragen wieder öffentlich. Auf Twitter bedanken sich einige Nutzer dann über die vielen lieben Zuschriften. Eine Feedbackschleife der Eitelkeiten.

Automatische Fragen sollen wohl die Nutzerbindung hochhalten

Man kann das jetzt für großen Quatsch halten, doch wenn es den Menschen dabei hilft, ihre Gefühle auszudrücken, ist eigentlich wenig dagegen einzuwenden. Leider häufen sich aber die Hinweise, dass zumindest ein Teil des NGL-Spielchens simuliert ist. IT-Security-Experten fanden im Code der App einen Textstrang, in dem generische Fragen gespeichert sind, etwa über das Verhältnis zu den den Eltern, zu Haustieren oder der Schule. Dinge also, die so gut wie jeden betreffen. Automatische Fragen sollen wohl die Nutzerbindung hochhalten. Schließlich bezahlt man keine zehn Euro wöchentliche Abo-Gebühr, wenn sich niemand für einen interessiert.

Mit der Eitelkeit verunsicherter Teenager Geld zu machen, ist natürlich nicht in Ordnung. Doch denkt man die Sache konsequent weiter, entsteht schnell ein veritabler Einsatzzweck: Maschinell generiertes Interesse, für mehr Selbstwertgefühl bei den menschlichen Nutzern. Streicheleinheiten für die Seele. Man müsste sich nur der Illusion hingeben, dass die Botschaften echt sind. Vielleicht würden dann die Menschen im Netz auch weniger schnell ausrasten.

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