Die gute Nachricht: Dank des Internets und seiner Streaming-Plattformen kann heute jeder jederzeit jede Art von Musik hören und, theoretisch, vom Schlafzimmerstudio aus selbst zum Star werden. Pop ist globaler, vielfältiger und in seinen Zugängen demokratischer denn je. Die schlechte Nachricht: Das vergangene Jahrzehnt war für Popmusik wirtschaftlich eine lost decade aus Ausbeutung und Kommodifizierung. Will sagen: Spotify und Co. entlohnen Künstler, sofern sie nicht gerade Beyoncé oder Harry Styles sind, einerseits auf Mikrocent-Basis. Und bringen sie andererseits mindestens indirekt dazu, gefällige Algorithmus-Musik zu erschaffen, deren Wert sich daran misst, wie oft sie abgespielt wurde.
Daran hat sich auch während Pandemie nichts geändert, in der die Streaming-Zahlen der großen Plattformen wuchsen - die Geschäftsmodelle aber nicht zugunsten der Künstler angepasst wurden. Die allermeisten von ihnen können von den Einnahmen auf der Plattform also noch immer nicht leben, was in einem konzertfreien Lockdown mehr schmerzt denn je.
Die Verfügungsgewalt über ihr Werk soll zurück in die Hände der Künstler
Wegen dieser Pop-Krisenlage, vermengt mit dem Interesse an Kryptowährungen, ist nun der Hype um sogenannte NFTs neu aufgeflammt. Diese sollen, so zumindest die Hoffnung, die Verfügungsgewalt über ihr Werk zurück in die Hände der Künstler legen - und der fortschreitenden Entwertung durch die Streaming-Plattformen und lausige Plattenverträge ein Ende setzen.
NFT steht für Non-Fungible Token, zu Deutsch in etwa "nicht austauschbares Merkmal". Kürzestmögliche Erklärung: Dank Blockchain-Technologie ist es mit ihnen möglich, Dateien eine Einzigartigkeit einzuschreiben, im Fachsprech zu "minten". Auch wenn die Musik und Bilder im Netz natürlich weiterhin unendlich kopier- und streambar bleiben, lassen sich also authentische Einzelstücke herstellen, denen sich ein konkreter Besitzer zuweisen lässt. Es entstehen so digitale Sammlerstücke, ähnlich etwa der Erstpressung eines Beatles-Albums. Und für diese Einzigartigkeit sind Menschen bereit, Geld zu bezahlen, auch wenn es sich eben nicht um eine Schallplatte handelt, sondern nur um eine Art digitalen Eigentumstitel. Den Preis dafür kann der Künstler selbst festlegen, Abgaben an Plattformen oder Labels fallen weg, auch wenn das Minting selbst Geld kostet. Klingt gut.
Funktioniert auch. Manchmal. Künstler wie Grimes oder die Kings of Leon haben mit ihren neuen Werken in NFT-Form bereits Millionensummen erzielt. Bereits 2017 waren eher unspektakuläre, aber eben auf Einzigartigkeit verknappte Bild-Dateien plötzlich Zigtausende Dollar wert.
Seither ist vor allem das Minting-Verfahren einfacher geworden. Deshalb drängen Hunderte Künstler mit großen Hoffnungen auf die neuen NFT-Einkaufsseiten wie Rarible oder Opensea - und merken dort: Das Geschäft spielt sich momentan noch weniger zwischen dem kleinen Indie-Künstler und seiner Fan-Crowd ab, sondern eben eher zwischen Menschen wie Elon Musks Ehefrau Grimes und ein paar Krypto-Millionären, die mit NFTs das eigene Wirtschaftsfeld stärken wollen. Man kauft weniger aus Liebe zur Musik und mehr aus Hoffnung auf eine Wertsteigerung, ähnlich einer Aktie. Von der Spekulationsblase profitieren momentan abermals die Künstler, die bereits einen Namen haben.
Hinzu kommt die Kritik, dass die bei den NFT-Verkäufen momentan hauptsächlich verwendete Ethereum-Währung, nach Bitcoin die derzeit zweitgrößte Kryptowährung, große Mengen an Energie verbraucht. Damit im sogenannten Proof-of-Work-Verfahren eine nicht kopierbare Datei entsteht, braucht es viel Rechenleistung. Während die Kings of Leon NFTs also als Ausweg aus "der Entwertung von Musik" der vergangenen 20 Jahre bezeichnen, sind sie für die Indierock-Künstlerin Lucy Dacus wegen des stupiden Börsencharakters und des Energieverbrauchs "destruktiv und verantwortungslos".
Bringen NFTs das neue Internet - und damit eine Wende von der Monopolisierung zur Dezentralisierung?
Haben wir es hier also mit einem Neureichen-Hobby zu tun, das beim Verpuffen auch noch das Klima ruiniert? Nicht nur. Mat Dryhurst setzt sich als Künstler und Dozent an der New York University wissenschaftlich und publizistisch mit den Wechselwirkungen von Technologie und Kultur auseinander. Er sieht in NFTs und den Möglichkeiten der Blockchain nicht weniger als "das neue Internet", das Web3, Nachfolger des Web 2.0 - eine Wende von der Monopolisierung zur Dezentralisierung.
Tatsächlich beinhaltet das digitale Token-Prinzip Möglichkeiten, die weit spannender sind als die millionenschweren Kunstverkäufe, etwa sogenannte "Smart Contracts". Mit denen ist es möglich, NFTs einen Automatismus einzuschreiben, mit dem der Erschaffer auch nach dem ersten Verkauf an jedem weiteren Verkauf des Objekts mitverdient. Mit wenigen Klicks beim Minting-Vorgang lässt sich so etwa einstellen, dass der Künstler auch bei jedem weiteren Verkauf seines NFTs zum Beispiel 20 Prozent Gewinnanteil erhält, ohne dass dafür irgendwer eine Rechnung schreiben oder Geld eintreiben muss.
Es wäre sogar denkbar, dass Fans in Zukunft dauerhaft ein Projekt oder eine ganze Band "mitbesitzen", Kunst also zugleich fördern und einen Anteil daran halten - ganz ohne Plattform oder Label als Mittelsmann, Rechnungsabteilung oder Zahlungsabwickler. Das NFT-Protokoll ermöglicht damit etwas, das kein Spotify dieser Welt bietet: Eine selbstbestimmte Entscheidung der Musiker darüber, wem ein Song, ein Album oder ihre Band eigentlich gehören und wer daran verdienen soll.
"Diese Eigentumsfrage ist die Achillesferse der alten Web2.0-Plattform-Ökonomie", sagt Dryhurst. Man habe sie zu lange den großen Konzernen überlassen und stattdessen lieber an einem falschen Independent-Denken festgehalten, nach dem sich ein Künstler allein auf seine Kunst zu konzentrieren habe.
Eine Gefahr, dass die Technologie nun wieder von einigen wenigen aufgesogen würde, wie etwa von Twitter-Gründer und NFT-Fan Jack Dorsey, sieht Dryhurst nicht. Dorsey hatte vor wenigen Wochen die von Jay-Z gegründete Streaming-Plattform Tidal übernommen und dabei verkündet, sie langfristig in ein dezentrales, artist-owned Netzwerk umgestalten zu wollen. "Das Tolle ist ja gerade, dass jeder die Werkzeuge hat, seine eigenen Vertriebswege aufzubauen, wenn er sich ein bisschen damit auseinandersetzt", sagt Dryhurst. Der Individualisierung der Künstler, die mit einer Monopolisierung der Plattformen einherging, könnte sich nun eine Vielzahl neuer, großer wie kleiner, dezentraler und über die Smart Contracts geregelter Netzwerke entgegensetzen, in denen Fans und Künstler zueinanderfinden.
Spotify, so Dryhurst, werde in dieser Welt zwar nicht sofort verschwinden. In Zukunft würden die ehemals allmächtigen Plattformen aber eher die Rolle eines kommerziellen Radiosenders einnehmen, der einem im Auto zwar die Hits der Stunde vorspielt, aber längst nicht mehr über neue Stars und Trends entscheidet.
Auch wenn man Dryhursts Euphorie nicht vollständig teilt und in der NFT-Welt in puncto Nutzerfreundlichkeit und Energieverbrauch noch einiges in den Kinderschuhen steckt: Die Annahme, dass die Zukunft der Musik auch weiterhin in einer intransparenten Streaming-Plattform stattfindet, die ihren Künstlern hin und wieder ein paar Cents ausspuckt, ist antiquiert. Was Spotify selbst wohl von diesen neuen Perspektiven hält? Dryhurst ist sich sicher: "Die haben komplett die Hosen voll."