Fußball und Theater:Oh, welch ein Weh! Welch ein Ach!

Wer Theatralik sehen will, sollte deutsche Theaterbühnen meiden und stattdessen lieber Neymars Auftritte bei der WM verfolgen. Eine Art Rezension.

Von Christine Dössel

"Theater muss wie Fußball sein", lautete der Schlachtruf der freien Theater in den Achtzigerjahren. Sollte heißen: Mach nicht so ein Drama! Spiel dich frei, stürme los, bring das Runde ins Eckige - und: Toor! Längst ist es andersherum: Fußball will wie Theater sein. Na ja, zumindest ein Fußballer wie Neymar, dessen voller Name - Neymar da Silva Santos Júnior - allein schon nach einer Hauptfigur in einem schurkischen Mantel-und-Degen-Drama klingt. Ein Mann, geboren für die Tragödie.

Schaut man sich den brasilianischen Fußballstar bei der WM in Russland an, kriegt man so viel Theatralik geboten wie auf den deutschen Bühnen schon längst nicht mehr. Im Theater geht der Trend ja weg vom klassischen Schauspiel hin zu Performance, Diskurs und Authentizität. Bürgerchöre, Laien, Flüchtlingsprojekte - man will möglichst viel Wirklichkeit auf der Bühne, möglichst wenig Dramatik. Selbst wenn Stücke von Schiller, Kleist oder Shakespeare gespielt werden, tut das keiner mehr pathetisch-deklamatorisch, mit großer Geste, drastischer Mimik und hohem Ton. Sondern nüchtern-heutig, so natürlich wie möglich, ohne Gewese und mimetisches Gedöns.

Nicht so die Drama-Queen Neymar. Bei der gibt es noch richtig viel Theater-Theater, wobei der Fußballtragöde alle Register der Schauspielkunst zieht, vor allem die der Laien- und Schmierenschauspielerei. So ist Neymar zum Beispiel ein Meister des Outrierens und der Melodramatik. Wenn sich der gebeutelte Held verzweifelt auf dem Boden wälzt und jammervoll die Hände vors Gesicht schlägt, spielt er das mit Leidenswucht wie eine Szene aus Aischylos' "Die Perser": Wenn der Bote der Königinmuttter Atossa die Nachricht vom Untergang der persischen Flotte überbringt. Oh, welch ein Weh! Welch ein Ach!

Ganz große Übertreibungskunst

Nach einem Beinduell mit dem Schweizer Valon Behrami krümmte sich Neymar so schmerzerfüllt auf dem Rasen, als seien ihm von Richard III. die Hoden eingetreten worden. Und als ihm im Spiel gegen Mexiko Miguel Layun in einem unfreundlichen Akt auf den Knöchel stieg, legte Neymar, sich windend, röchelnd und zuckend, eine Sterbeszene wie im letzten Akt von "Hamlet" hin, nur drastischer als im gängigen Regietheater. Ganz große Übertreibungskunst!

Outrieren kann durch das Bemühen eines Schauspielers entstehen, seiner (kleinen) Rolle Bedeutung zu geben (siehe auch "Chargieren"), es kann aber auch ein bewusst eingesetztes Stilmittel sein. Da Neymar, der geniale Ballkünstler, auf der WM-Bühne alles andere als eine Nebenrolle spielt, ist wohl zweifellos Letzteres der Fall. Overacting als Stilmittel, um Furcht und Mitleid zu erregen: Jammer (éleos) und Schauder (phóbos) - nach der aristotelischen Poetik sind dies bekanntlich die klassischen Affekte, die die Tragödie beim Zuschauer erzeugt. In der Katharsis, auf die alles hinausläuft, soll die Seele dann von diesen Erregungszuständen gereinigt werden. Neymar, der Kathartiker des Fußballs - ein Seelsorger eigentlich.

Nur leider wird er von den meisten nicht so gesehen. Im Gegenteil, als Schauspieler beschimpfen sie ihn, dabei nennen sie ihn nicht einmal einen "schlechten Schauspieler", sondern nur: Schauspieler! Von einer "Schande für den Fußball" sprach Mexikos Trainer Juan Carlos Osorio nach dem Spiel gegen Brasilien: "Das ist ein schlechtes Beispiel für die ganze Welt und all die Kinder vor dem Fernseher. Es sollte nicht so viel Schauspielerei geben." Also bitte!

Schauspielerei heißt immer: "so tun, als ob". Und wer täte das nicht - bei einer Fußballweltmeisterschaft wie auch sonst im Leben? "Wir spielen alle. Wer es weiß, ist klug", wusste Arthur Schnitzler. Vielleicht muss Neymar, um die Zuschauer nicht ständig auf die Palme, sondern endlich wirklich zur Katharsis zu bringen, an seiner Methodik feilen: mehr glaubwürdiges Method-Acting à la Lee Strasberg und Stanislawski, weniger Overacting und Laienspiel.

Bertolt Brecht schrieb 1920: "Man muss ins Theater gehen wie zu einem Sportfest." Umgekehrt möchte man sagen: Betrachten wir Fußball doch bitte mehr wie Theater! Es ist doch beides ohnehin ein Spiel. Und in diesem vorletzten Satz steht ganz bewusst kein "nur".

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