Neuübersetzung der "Éducation sentimentale":Wo die Wörter hingehören

Elisabeth Edl übersetzt Gustave Flauberts "Éducation sentimentale" als "Lehrjahre der Männlichkeit". Auswuchs der Genderdebatte oder philologischer Scoop? Und hält der Text, was der Titel verspricht?

Von Jürgen Ritte

Die Lektüre eines Romans beginnt mit dem Titel, und dieser wird möglicherweise mehr von sich reden machen als der Roman selbst: "Lehrjahre der Männlichkeit" steht auf dem Umschlag der jüngsten Großtat der Übersetzerin Elisabeth Edl, der Neuübersetzung von Gustave Flauberts "Éducation sentimentale". Es ist das Werk, in dem die Literatur des 20. Jahrhunderts von Hofmannsthal über Sartre bis Vargas Llosa oder Georges Perec das Gründungsmanifest moderner Erzählkunst sah. Das muss man erst einmal auf sich wirken lassen. Jetzt also auch Flaubert in gegenderter Fassung?

In ihrem umsichtigen Nachwort verweist Elisabeth Edl auf die Mühe, die sämtliche Flaubert-Übersetzer vor ihr schon mit dem französischen Titel hatten: Kein ins Deutsche übertragener Roman der Weltliteratur weist so viele Titelvarianten auf, von den "Lehrjahren des Herzens" bis zur "Schule der Empfindsamkeit": sieben Titel für die zehn zwischen 1904 und 2001 entstandenen Übersetzungen. Das liegt nicht nur an den erheblichen semantischen Differenzen, die das französische Adjektiv "sentimental" und sein deutscher Zwilling trotz buchstäblicher Ähnlichkeit aufweisen. Das eine ist eben, wie alle Übersetzer wussten, nicht das andere, ohne eine Antwort auf die Frage zu finden, was denn im Deutschen an die Stelle von "sentimentale" rücken könnte.

Das Problem liegt schon im Titel des Originals begründet, einem Titel, um den Flaubert lange gerungen hatte, dem aber schon Marcel Proust in seinem bahnbrechenden Essay über den Stil Flauberts attestiert hat, dass er "grammatisch" inkorrekt sei. Womit er das Urteil einiger Zeitgenossen Flauberts bestärkte, die diesen Titel schon im Jahre 1870, da Flauberts Jahrhundertroman bei Michel Lévy Frères in Paris erschien, für einen glatten Fehlgriff hielten.

Was also kann Flaubert mit diesem auch dem französischen Leser nicht ganz einsichtigen Titel gemeint haben? Elisabeth Edl begibt sich auf eine philologisch-detektivische Suche, die keine Antworten schuldig bleibt. Da ist zunächst der Verweis auf den spätestens seit Mitte des vergangenen Jahrhunderts unterschlagenen Untertitel: "Histoire d'un jeune homme". Flauberts Œeuvre hielt in Frankreich erstmals 1951/1952 Einzug in die maßgebende Klassikerreihe der "Bibliothèque de la Pléiade", und dort sucht man auch in den Anmerkungen so vergeblich nach diesem Untertitel wie in zahlreichen wohlfeileren Ausgaben. Die "Geschichte eines jungen Mannes", die die Geschichte einer ganzen Generation von jungen Männern ist (jüngere deutsche Übersetzungen führten den Untertitel übrigens wieder ein), verweist ihrerseits auf ein von Flaubert bewundertes Modell, auf Goethes Wilhelm Meister. So etwas Ähnliches schwebe ihm vor, vertraute Flaubert seinen Freunden an.

Jean-Claude Brialy, Marie-Jose Nat Characters: Frederic Moreau,Anne Arnoux Film: Lessons In Love; Sentimental Education

Gesten des Gefühls und der Männlichkeit aus dem Jahr 1962: In der Verfilmung „Éducation sentimentale“ nach dem Roman von Gustave Flaubert von 1869 mit Jean-Claude Brialy als Frédéric Moreau und Marie-José Nat als Anne Arnoux.

(Foto: imago images/Mary Evans)

Damit rechtfertigt sich allemal der Begriff der Lehrjahre im deutschen Titel. Denn darum geht es vor allem: Was machen die Zeitläufte, die wechselnden politischen Regimes im Frankreich des 19. Jahrhunderts, die Revolutionen von 1830 und 1848, der Staatsstreich Louis Napoléons von 1851 und schließlich das Second Empire, das 1870, ein Jahr nach Erscheinen des Romans, auf den Schlachtfeldern von Sedan im französisch-preußischen Krieg sein "Debakel" (Emile Zola) erlebte, was macht all das mit einer Gruppe junger und weniger junger Männer, allen voran mit dem Helden Frédéric Moreau (dem, wie den anderen, indes einige Frauen zur Seite stehen)? Nicht viel, lautet Flauberts abgebrühte Antwort. Lauter verlorene Illusionen.

Die Erzählung endet abrupt mit den blutigen Vorkommnissen beim Staatsstreich Louis Napoleons am 4. Dezember 1851. Jahre später begegnet Frédéric in einem kurzen Kapitel der einst angebeteten Madame Arnoux wieder, sie haben sich nichts mehr zu sagen, sie geht - "Und das war alles", lauten die berühmten Schlussworte. Es folgt ein Epilog, den man vielleicht auf den Winter 1868/1869 datieren kann, in dem Frédéric und sein alter Freund Deslauriers die Bilanz ihres Lebens ziehen. Geblieben ist nichts als die Erinnerung an einen missglückten Bordellbesuch in der Schulzeit: "Für uns war's im Leben das beste!", schließt Deslauriers auf der letzten Seite.

Damit wird evident, dass der Begriff der Lehrjahre, gerade im Hinblick auf Goethes Roman, hier nur ironisch, ja geradezu sarkastisch gemeint sein kann. Den bösen, kühlen, leidenschaftslosen Blick, den Flaubert schon auf die Welt der Madame Bovary geworfen hat, dem er die Herren "Bouvard und Pécuchet" noch aussetzen wird, wirft er hier auf seine Generation.

Aber geht es ihm auch um die Demontage einer Idee von Männlichkeit? Vorstellbar und also nicht ganz auszuschießen ist, auch dieser von Georg Brandes schon 1894 angedeuteten Fährte geht Elisabeth Edl nach, dass Flaubert Friedrich Schlegels "Lucinde" von 1799 kannte. In der Frühfassung der "Éducation sentimentale" jedenfalls taufte er ein Liebespaar auf die Namen der "Helden" von Schlegels Romankonstrukt: Jules (Julius) und Lucinde. Vor allem aber ist der zweite Teil von Schlegels Lucinde überschrieben mit: Lehrjahre der Männlichkeit. Das ist nun eine wunderbare Trouvaille, die ungeahnte Bezüge freizulegen scheint. Und doch, so viele negative Eigenschaften Schlegels Julius mit Frédéric teilen mag (Ungestüm, Unentschlossenheit, Unausgeglichenheit), stoßen sie sich bei Schlegel nie an den politischen Zeitläuften und werden schließlich alle kuriert. Schlegel konstruiert eine romantische Form von Männlichkeit, Flaubert dekonstruiert.

Ob an dem "jungen Mann" im Untertitel der "Éducation sentimentale" ganz geschlechtsspezifisch "Männlichkeit" in all ihren Ausdifferenzierungen demontiert wird oder ganz allgemein das, was Flaubert am meisten hasste, die menschliche (und nicht eben nur männliche) Dummheit, kann man diskutieren. Nie hat eine Übersetzerin ihre Titelwahl so ausführlich und stark begründet wie Elisabeth Edl. Dabei entsteht aber eben, auch mit Blick auf gegenwärtige Genderdebatten, der Eindruck, dass es sich hier eher um eine These als um einen Titel handelt. Doch lässt sich damit bis auf Weiteres sehr wohl leben.

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Mit seinen Romanen „Madame Bovary“ (1856) und „L’Éducation sentimentale“ (1869) sprengte Gustave Flaubert alle Möglichkeiten der Gattung bis dahin. Danach konnte die Moderne beginnen.

(Foto: imago/Leemage)

Man würde dieser Übersetzung aber einen Tort antun, wollte man sie auf den Titel reduzieren. Marcel Proust, der die Wortkombination "Éducation sentimentale" für ein Vergehen gegen die französische Grammatik hielt, fuhr, mit sicherem Gespür fürs Paradox, fort, dass der Titel gerade darum schön sei. Große Schriftsteller seien diejenigen, die sich an der Sprache vergehen. Und im Falle Flauberts blättert Proust einen ganzen Katalog an Vergehen und stilistischen Kühnheiten auf: der Gebrauch der Pronomen, der Konjunktionen, der Zeiten, der Syntax. All das im Dienste einer neuen "vision des choses", einer neuen Sicht der Dinge, die den Leser frappiert, derangiert, bis sich seine Augen neu darauf eingestellt haben. Diesen Ton, der nicht glättet, harte Schnitte nicht scheut, der die Worte, insbesondere Adverbien, Appositionen dort platziert, wo sie laut Syntax nicht stehen sollten, schlägt Elisabeth Edl gleich im ersten Absatz an, der das Durcheinander am Pariser Quai Saint-Bernard evoziert. Nicht die Ordnung des Satzes, sondern die Logik der Wahrnehmung entscheidet. So kommen Menschen nicht "Atemlos angerannt", sondern sie kommen "gerannt, außer Atem".

Ihre Sensibilität für die Musikalität von Flauberts Sprache, der ja seine Sätze laut deklamierte, sie über die Kehle gleiten ließ, stellt Elisabeth Edl besonders in der berühmten Passage unter Beweis, da Frédéric und die Cocotte Rosanette im Wald von Fontainebleau spazieren, einem Wald von kunstvoll ineinander verflochtenen botanischen Begriffen, deren Poesie sich im ungewöhnlichen Klang erfüllt, rhythmisch wie ein Gedicht gebaut. Hier ist man Flauberts Traum vom Buch über nichts, das nur Musik wäre, nahe.

Unter all den Pflanzen, die Flaubert beschreibt, fehlt eine, die man, in Anlehnung an die "Verzweiflung des Malers", so heißt im Französischen die "heuchera sanguinea", die "Verzweiflung des Übersetzers" nennen sollte, wie Philippe Jaccottet einst vorgeschlagen hat. Denn zur Verzweiflung müssen Stellen wie die führen, in denen Flaubert, dem sonst ein Weg in die Bibliothek nie zu weit war, sich mit dem reinen Wortklang begnügte, ohne zu überprüfen, was dahinterstecken mochte: Was macht man mit einem Abendessen, in dessen Verlauf Dinge serviert werden, die in keinem französischen Wörterbuch stehen, "daspachio" und "lip-fraoli"? Soll man, darf man's besser wissen? Gazpacho und Liebfraumilch. Bei Elisabeth Edl stehen, zu Recht, Flauberts Kuriosa in den Fußnoten, die allein schon die Lektüre lohnen. Die besondere Poesie der Namen muss hier einmal verloren gehen, wo Elisabeth Edl sie sonst rettet. Dieser Flaubert wird auf Jahrzehnte der unsere sein.

Gustave Flaubert: Lehrjahre der Männlichkeit. Geschichte einer Jugend. Herausgegeben und übersetzt von Elisabeth Edl. München, Hanser, 2020, 800 Seiten, 42 Euro.

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