Neunte Station in Dakar, Senegal:Die Bilderräuber

Betende in Dakar, Senegal

Manche verbeugten sich tief, während sich der Verkehr langsam an ihrer Andacht vorbei quälte. Am Abendhimmel kreisten große schwarze Vögel, und der Vollmond tauchte die letzten Minuten des Tages in ein weiches und doch aufwühlendes Licht.

(Foto: Michael Glawogger)

Wenn man daran glaubt, dass Seele und Identität im eigenen Abbild liegen, dann wiegt der Diebstahl eines solchen Bildes schwer. Eine fiktive Geschichte, die auf ganz realen Beobachtungen beruht.

Von Michael Glawogger

Wenn man daran glaubt, dass Seele und Identität im eigenen Abbild liegen, dann wiegt der Diebstahl eines solchen Bildes schwer.

Es war Freitag, und rund um die kleine Moschee beteten an die hundert Männer auf dem Gehsteig vor den Geschäften und zwischen den parkenden Autos. Manche verbeugten sich tief, während sich der Verkehr langsam an ihrer Andacht vorbei quälte.

Am Abendhimmel kreisten große schwarze Vögel, und der aufsteigende Vollmond tauchte die letzten Minuten des Tages in ein weiches und doch aufwühlendes Licht.

Es war Valentinstag, und alle Straßenverkäufer boten in Plastik verpackte, kurzstielige rote Rosen feil, die sie in billiges Parfüm getaucht hatten.

Er hatte an diesem Abend keine Verwendung für Rosen - und auch kein Interesse an Hemden, Telefonkarten, Sonnenbrillen, einer Rolex oder dem Besuch einer Kunstgalerie. No problem, wurde ihm versichert, wobei er gar nicht auf die Idee gekommen wäre, dass es ein Problem geben könnte. Bis er merkte, dass seine Ausweistasche mit all seinen Karten verschwunden war. Führerschein, Personalausweis, Kreditkarten - alles weg.

Er durchsuchte ungläubig die Innentasche seiner Jeansjacke und kalkulierte innerlich, was dieser Verlust bedeutete. Erst unlängst war er in einem Hotelzimmer in Russland aufgewacht, weil ihn die Mitarbeiterin einer Kreditkartenfirma mit sanfter Stimme in einen verwehenden Traum hinein gefragt hatte, ob er sich gestern Abend wirklich neun Fernsehgeräte, fünfzehn Stangen Zigaretten und ein opulentes Abendessen geleistet hätte.

Er hatte sich im Zimmer umgeschaut, und der einsame Hotelfernseher war ein ziemlich deutliches Zeichen dafür gewesen, dass es jemand anderes gewesen sein musste, der mit seiner Kreditkarte einem achtbaren Kaufrausch verfallen war.

Fernseher, ... immer wieder Fernseher

Es war ihm also noch durchaus frisch im Gedächtnis, was es hieß, all diese Karten erst sperren, dann neu besorgen und überdies beweisen zu müssen, dass man nicht neun Fernseher als Andenken von Russland nach Wien mitgenommen hatte.

Er wurde ganz langsam in seinen Bewegungen. Die schwarzen Vögel am Himmel hatten etwas Bedrohliches bekommen, und der Mond schien jetzt eher aggressiv als milde vom mittlerweile schon nächtlichen Himmel.

Was sich der Dieb hier würde anschaffen wollen? Er zögerte einen Moment, die Karten sofort sperren zu lassen, denn dann würde er es nie erfahren. Aber es wäre wohl enttäuschend gewesen. Wahrscheinlich wären es wieder Fernseher gewesen. Ein Auto war zu teuer, eine Wohnung dauerte zu lange, und was braucht der Mensch sonst außer Fernseher?

Als er das noch nicht in allen Facetten fertig gedacht hatte, hielt ihm ein älterer Herr in gespielter Empörung über die jungen Leute, die hier ihr Unwesen trieben, seine Ausweistasche entgegen. Es fehlte nichts, und er gab dem Mann wortlos ein gutes Trinkgeld.

Die Diebe waren in seiner Wertschätzung beträchtlich gestiegen, denn er hatte große Achtung vor Menschen, die ihren Beruf gut beherrschen und ihm mit Herz nachgehen. Es braucht Geschick und Mut, sich Tag für Tag wildfremden Menschen anzunähern, ihnen etwas zum Verkauf anzubieten, sie mit Hilfe von Mitarbeitern zu umschwärmen und ihnen dabei in die Tasche zu greifen.

Im neuen Licht des Verlierens und Wiederbekommens

Er selbst, in der träumerischen Stimmung, in der er sich befunden hatte, war dabei sicher ein leichtes Opfer gewesen. Touristen, die sich durch die Sicherheitstipps aller Reiseführer gelesen, ihre Wertsachen im Hotelsafe verwahrt oder in reißfesten Umhängebeuteln verstaut hatten, waren da schon andere Kaliber.

Dass ihm aber nun seine Ausweistasche, nachdem sich ihr Inhalt in Ermangelung von Bargeld als relativ wertlos herausgestellt hatte, zurückverkauft wurde, war anständig und vernünftig. Genauso gut hätten die Diebe alles einfach wütend wegwerfen und sich dem nächsten Opfer zuwenden können - stattdessen taten sie etwas, das für beide lohnend war. Er fand, dass die Ausweise auch schöner aussahen als vorher - im neuen Licht des Verloren- und Wiederbekommen-Habens.

Im Sinne der Welt dieser Tage hatte er seine Identität wiederbekommen. Er war ganz offiziell wieder er - belegbar durch nichts außer ein paar Stücke Plastik.

Wenn man daran glaubt, dass Seele und Identität im eigenen Abbild liegen, dann wird die Sache schon heikler, und der Diebstahl wiegt schwerer.

Er erinnerte sich vor dem Einschlafen an einen Mann, der wutentbrannt von einem Minibus gesprungen war, weil er diesen fotografiert hatte. Der Mann schrie gestikulierend auf ihn ein und forderte, dass das Bild, das er eben gemacht hatte, sofort vernichtet würde. Er schien wild entschlossen, alles zu unternehmen, damit das auch wirklich geschah, und hätte sicher versucht, die Kamera zu zerschlagen, wenn er ihm nicht glaubhaft hätte vorführen können, dass das Bild von der Speicherkarte gelöscht worden war.

Die schrecklichen Qualen einer verlorenen Seele

In früheren Zeiten hätte er ihm wohl die ganze Rolle Kleinfilm geben müssen und dabei auch die restlichen Fotos verloren, um den Mann nicht den schrecklichen Qualen einer verlorenen Seele zu auszuliefern.

Er schlief mit dem Gedanken an diesen Vorfall ein und dachte noch, dass der Mann vielleicht nur Angst gehabt hatte, zu dieser Stunde in diesem Bus entdeckt worden zu sein. Dass er sich beschattet gefühlt hatte. Vielleicht hatte er geglaubt, von einem Privatdetektiv beobachtet zu werden. Nein, dachte er zuletzt, manchmal versteht man die Menschen und das, was sie sagen, auch wenn man ihre Sprache nicht spricht. Dann schlief er ein.

Er erwachte, weil der Fernseher ansprang - er musste durch eine Bewegung im Schlaf die Fernbedienung berührt haben. Er war sofort hellwach, denn es lief ein Low Budget-Horrorfilm in arabischer Sprache. Er handelte von einer Invasion wildgewordener Zombies, die ihre Seele dadurch verloren hatten, dass jemand ein Abbild von ihnen geschaffen und sie damit in hässliche, entstellte Untote verwandelt hatte.

Seelenlose auf CNN

Sie zogen mit Kameras bewaffnet durch die Welt, um den Rest der Menschheit zu ihresgleichen zu machen. Die Lebenden schleuderten ihnen inbrünstig vorgetragene Gebete entgegen und knallten sie ab wie räudige Hunde. Der Film steuerte auf das große Schlussgemetzel zu, in dem sich Todesschreie und Schüsse mit Lobpreisungen Allahs mischten, als er wieder einschlief.

Er erwachte erst gegen Mittag wieder. Draußen hupte der Tag wild vor sich hin, und die Sonne drang fordernd in das stickige Zimmer. Der Fernseher lief immer noch, und er sah die Nachrichten auf CNN vor sich hinplätschern. Gestylte Ansagerinnen, gestresst argumentierende Politiker und laufende Männer in Uniform huschten über den Schirm.

Seelenloses Pack, dachte er, holte seinen Fotoapparat und fotografierte sich selbst.

https://www.facebook.com/MichaelGlawogger

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: