Neues Sachbuch:Mit Blasius gegen den Erstickungstod

Beten statt Notarzt? Dass Heils- und Segenssprüche bei Krankheiten wirklich helfen können, behauptet der Neurologe Wolfgang Ernst in seinem neuen Buch "Beschwörungen und Segen. Angewandte Psychotherapie im Mittelalter".

Rudolf Neumaier

Übrig geblieben ist der Blasiussegen. Er wird in katholischen Regionen einmal im Jahr erteilt, in der Regel am 2. Februar, Maria Lichtmess. Mit der einen Hand hält der Priester dem Empfänger zwei gekreuzte Kerzen vor den Kehlkopf, macht mit der anderen das Kreuzzeichen und betet den Spruch: "Durch Fürsprache des Heiligen Blasius, des Bischofs und Märtyrers, befreie dich Gott von Kehlkrankheit und jedem anderen Übel." Das wirkt dann ein Jahr lang. Wenn es wirkt.

Segen Urbi et Orbi

Sein Segen hat zumindest die größte Reichweite. Wenn Papst Benedikt XVI. die Arme zum "Urbi et Orbi"-Segen ausbreitet, spricht er zu 1,1 Milliarden Katholiken.

(Foto: dpa)

Hier kommt der Neurologe und Psychiater Wolfgang Ernst mit seinem neuen Buch ins Spiel. Im limbisch-hippocampalen System des Gehirns, sagt Ernst, kann in akuten Fällen allein die Nennung des Namens Blasius positive Effekte zeitigen - bei Menschen, die mit Blasius und seiner Geschichte vertraut sind.

Wer aus einer katholischen Gegend wie Oberbayern stammt und beim freitäglichen Fischessen schon mal Erstickungsanfälle wegen einer Gräte miterlebt hat, wird den Blasiussegen in Ehren halten. Der röchelnde und im Gesicht bereits blau anlaufende Großvater wurde mit Weißbrot vollgestopft und auf den Tisch gelegt. Und während die halbe Familie auf seinen Rücken drosch, um den Fremdkörper in seiner Gurgel zu lockern, erzählte die Großmutter seelenruhig die Geschichte von Blasius, der einen Knaben vor dem Erstickungstod gerettet hatte. Keine Panik, sollte das bedeuten, der Großvater hat ja den Blasiussegen.

Was soll man sagen, der Großvater gewann seinen Kampf gegen die Gräte, er überlebte die Mahlzeit. Dafür gibt es eine rein physikalische Erklärung. Oder aber auch eine neurologische: Der akute Stress einer Notfallsituation fördere die Ausschüttung des Hormons Cortisol, was unter anderem die Suggestibilität erhöhe und die Wirksamkeit der Imaginationen durch Psychotherapie verstärke, schreibt Ernst.

In seiner Praxis ist er als Nervenarzt und Psychotherapeut tätig. Nebenbei beschäftigt sich Ernst mit Medizingeschichte. In seinem lesenswerten Buch "Beschwörungen und Segen" kombiniert er seine fachärztliche Kenntnis und seine historischen Studien. Er klopft "Angewandte Psychiatrie im Mittelalter", wie der Untertitel lautet, auf ihre Wirksamkeit ab und legt den Wissensstand der heutigen Neurologie als Maßstab an.

"Ich beschwöre euch Elfen und alle Geschlechter der Dämonen"

Als medizinischer Laie kann man seine Diagnosen schwer überprüfen. Doch plausibel klingen sie allemal. Viel von dem, was Kranke und Verletzte an Sprüchen und Segnungen zu hören bekamen, war demnach therapeutisch sinnvoller, als man zunächst annehmen mag.

HEILIGE

Bild aus dem Diözesanmuseum Rottenburg-Stuttgart: Der Heiliger Bernhard von Aosta und der Heiliger Blasius.

(Foto: KNA)

Nehmen wir den Fiebersegen mit den Siebenschläfern von Ephesus: Er rührt von der Legende von sieben christlichen Hirten, die auf Geheiß des römischen Kaisers Decius eingemauert wurden, weil sie seine Götter nicht anbeteten. Fast 200 Jahre später bricht ein Landwirt die Höhle auf, um sie als Schafstall zu nutzen. Die Hirten leben noch, sie haben nur geschlafen. Erzählt die Legende.

Im 9. Jahrhundert ist sie bis Nordfrankreich verbreitet, in einem Codex des Regensburger Klosters St. Emmeram wird sie in einen Segensspruch integriert, zur Therapie gegen Fieber und Schüttelfrost. Durch die Fürsprache der Siebenschläfer möge Gott den Gesegneten beschützen, heißt es da. Wie jene solle der Kranke "nach der Kinder Art im Mutterschoß ruhend weder Mühe noch Schmerz oder Tod spüren". Und so fort. Ähnliche Zeugnisse führt Wolfgang Ernst bis ins 16. Jahrhundert an. Hokuspokus? Mag sein, aber offenbar ein überaus nützlicher. Der Neurologe hält diese Art von Erzähltherapie für tauglich, "einen fieber- und schmerzdämpfenden Ruhezustand zu fördern".

Gegen Augenleiden, Regelblutungen und zur Schmerzlinderung bei Frakturen gab es ebenso Heilsprüche wie gegen Zahnschmerzen und Epilepsie. Wobei sie bei Epileptikern neurologisch betrachtet wirkungslos blieben, denn im bewusstlosen Zustand verarbeitet das Gehirn keine akustischen Signale. Die Sprüche gegen Schlafstörungen klingen hingegen wie ein Exorzismus: "Ich beschwöre euch Elfen und alle Geschlechter der Dämonen, dass ihr zurückweicht vom Diener Gottes N." Zur Wurmvertreibung rekurrierte man auf Hiob aus dem Alten Testament - eine Katastrophengeschichte mit Happy End. Segenssprüche wie diese dienten zumindest als therapiebegleitende Entspannungsmaßnahme.

Ja aber, sagt sich der aufgeklärte Mensch, im Mittelalter waren sie für solchen Zauber noch zugänglich, heute sind wir klüger. Das ist Quatsch. "Die Gehirne unserer mittelalterlichen Vorfahren arbeiteten wie die unseren." Und gesunde Gehirne gottgläubiger Menschen, stellt Ernst fest, funktionieren unter den gleichen neuronalen Arbeitsabläufen wie gesunde Gehirne von Atheisten. Weil im Mittelalter die Religion das Leben bestimmte, weil die Menschen zum Beispiel noch alle Siebenschläfer mit Namen aufzählen konnten und die Bibel in- und auswendig kannten, auch wenn sie des Lesens nicht mächtig waren, verfügten sie über ein Sensorium, das säkularen Menschen abhanden gekommen ist. Ein Sensorium, das auf der Kenntnis von Heiligenlegenden basiert und das Voraussetzung ist, um Segenssprüche neuronal zu verarbeiten. Die Mediziner des Mittelalters glaubten an die psychosomatische Wirkung des gesprochenen Wortes. Der Schulmediziner des 21. Jahrhunderts bezeichnet es als "elektrochemisches Potential".

WOLFGANG ERNST: Beschwörungen und Segen. Angewandte Psychotherapie im Mittelalter. Böhlau-Verlag, Köln-Weimar-Wien, 2011. 386 Seiten, 49,90 Euro.

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