Neues Kino:Der Putz blättert, wie schön

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Wenn das Kino sich gründlicher mit der Wirklichkeit auseinandersetzt als CNN: Vermögende Wahnsinnige, Morde unter Millionären und Brad Pitt als Jesse James beim Filmfestival in Venedig.

Susan Vahabzadeh

Man ist auf Festivals ja geneigt, dem Kino und den Menschen, die es ausmachen, Weltfremdheit zu unterstellen. Vorne auf dem roten Teppich pirouettieren, in Ermangelung von Konkurrenz, ein paar völlig unbekannte Französinnen im Abendkleid, für Fotografen, die wahrscheinlich nicht so recht wissen, wem sie diese Bilder je verkaufen sollten; hinterm Palast rotten sich die jungen Mädchen zusammen, die darauf hoffen, dass irgendwann Brad Pitt da lang muss auf dem Weg zu seiner Pressekonferenz; und auf der Leinwand lässt sich Claude Chabrol zwei Stunden Zeit, um auf einen Mord unter Millionären hinzuarbeiten, der vor ungefähr 500 Zeugen geschieht.

Das erweckt schon den Eindruck, als spiele sich das gesamte Festival in einer Scheinrealität ab. Andererseits hat in der unanfechtbar echten Wirklichkeit ein sonst von Sicherheitsmaßnahmen besessener Innenminister kurz öffentlich überlegt, ob man 18-Jährigen nicht doch Waffen verkaufen kann, während Brian De Palma für seinen Irakkriegsfilm "Redacted" in den USA vorgeworfen wurde, seine Greueltaten-Story erzähle nur Dinge, die man schon wisse.

Von Haus aus böse

Was man als surreal empfindet, ist also offensichtlich Geschmacksache. Es gibt überhaupt keine Wirklichkeit. Bestenfalls Versionen davon. Und mit denen setzt sich das Kino manchmal gründlicher auseinander als CNN. Chabrol, dessen "La fille coupée en deux" außer Konkurrenz läuft, hat sich diesmal eine für seine Verhältnisse tatsächlich eher artifizielle Gemeinde vorgenommen, die Hautevolee von Lyon, wo eine aufstrebende hübsche Lokal-Wetterfee (Ludivine Sagnier) von einem Konzernerben (Benoît Magimel) umworben wird, sich dann aber in einen steinalten und furchtbar egozentrischen Schriftsteller (François Berléand) verknallt.

Es geht bei Chabrol, wie immer, darum, dass der Mensch von Haus aus irgendwie böse ist, er hat bloß unterschiedliche Arten, es auszudrücken oder zu unterdrücken. Eine hübsche Geschichte, bei der Chabrols Sympathien voll und ganz bei dem Mädchen liegen, auch wenn sie ihrerseits nicht ganz sauber ist - aber moralische Menschen fand er schon immer langweilig.

Sich provozierend viel Zeit lassen - das war wohl die Parole, die Abdellatif Kechiche für seinen wunderschönen französischen Wettbewerbsbeitrag "La graine et le mulet" ausgegeben hat, und selten hat eine Geschichte, in der so wenig passiert, einen solchen Sog entwickelt. Er schaut einer maghrebinischen Patchworkfamilie beim Leben zu. Slimane ist zu alt für die harte Arbeit im Hafen und verliert seinen Job, er versucht deswegen, sich mit einem Restaurantboot für Cous Cous mit Fisch selbständig zu machen, wobei sich ihm Bank und Behörden in den Weg stellen. Eigentlich wird die meiste Zeit gegessen und geredet, zweieinhalb Stunden lang, mit Charme und einer quirligen, hoffnungsvollen Energie.

Andrew Dominik lässt sich für seinen "The Assassination of Jesse James by the Coward Robert Ford" ebenso viel Zeit, aber die Rezeptur geht nicht annähernd so gut auf wie bei Kechiche. Dominik beschreibt sehr detailliert, wie der jugendliche Kleingangster Robert Ford (Casey Affleck), neu in der James-Gang, seinen Helden Jesse, der eigentlich ein sehr furchteinflößender, kühler Fiesling ist, aber ungeheuer charismatisch, umgarnt. Er verehrt ihn so sehr, dass er am liebsten in seine Haut schlüpfen würde - und weil er das nicht kann, immer nur ein kleines Nichts sein wird am Rockzipfel seines Idols, bringt er ihn um, als könne dieser Akt ihn über sich selbst hinausheben.

"Jesse James" ist ein bisschen sehr pathetisch, verfolgt die wortlosen, eleganten Gesten und das provozierend minimalistische Mienenspiel von Brad Pitt als Jesse James - Andrew Dominik filmt den Mythos in der Entstehung wie andere eine Blume beim Wachsen. Ein schöner Winterwestern, der in den Nachwehen des Bürgerkriegs spielt, des letzten Krieges auf amerikanischem Boden - manche glauben, sagt einmal ein Sheriff zu Bob Ford, Jesse James sei so geworden wegen dessen, was seiner Familie widerfahren sei in diesem Krieg. Da ist klar, warum der Film im Wettbewerb läuft - er steht in Bezug zu den Irakkriegsfilmen von De Palma und Paul Haggis, zeichnet ein zerrüttetes Amerika, führt zurück an den Ursprung medialer Wirkung.

Vermögende Wahnsinnige

Der Ikonoklast Robert Ford kann den Mythos Jesse James nicht zerstören. Für ihn ist alles vorüber, aber die Legende lebt weiter. Manchmal kann der Glanz des Wettbewerbs aus einem Film ein bisschen mehr machen, als er eigentlich ist. Oder das Gegenteil. "The Sun also Rises", an dem der Chinese Jiang Wen, als Schauspieler und Filmemacher zu einigem Ruhm gekommen, jahrelang gearbeitet hat, ist furchtbar laut und überkandidelt, ein bisschen wie Kusturica, dauernd wird gebrüllt und mit Gegenständen geworfen wird. Die Geschichte einer Witwe und ihres Sohnes in einem kleinen Dorf, verquickt mit der eines Paares an einer Schule in der Stadt, verpufft dazwischen.

Wes Anderson braucht das alles nicht, der hat mit "The Darjeeling Limited" endlich seine Mitte gefunden - es geht zwar wieder um vermögende Wahnsinnige, die miteinander verwandt sind, aber im Gegensatz zu "The Royal Tenenbaums" und "Life Aquatic with Steve Zissou" finden die Whitmans zu einer zauberhaften Ernsthaftigkeit. Anderson fabuliert fröhlich drauf los, darüber wie Francis (Owen Wilson), Peter (Adrien Brody) und Jack (Jason Schwartzman) sich in einem indischen Zug, dem Darjeeling Limited, wieder zueinanderfinden - der Vater ist tot und die Mutter ist noch bekloppter als ihre drei Söhne.

In dem Zug, dem Anderson ähnliche Puppenhausqualitäten abgewinnt wie dem Familienboot in "Life Aquatic", klappt das nicht, erst als sie irgendwo in Indien ausgesetzt werden, wegen einer Giftschlange, Medikamentenmissbrauchs und Aufsässigkeit. Im Angesicht eines kleinen Leichnams werden sie plötzlich ganz ruhig. Das Leben ist zu kurz, um jede Last, die einem aufgebürdet wurde, mitzuschleppen. Anderson schwelgt in den Farben einer sehr gebraucht aussehenden Welt, der Putz blättert. Diesmal ist sie wirklich wie seine Figuren - voller Macken und unendlich schön. Es geht ja im Kino auch noch um etwas anderes, als dauernd die Gesellschaft zu definieren. Und wenn es auf seine eigene, surreale Art von der Welt erzählt, dann ist es ganz bei sich.

© SZ vom 4.9.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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