Neues Buch von Umberto Eco:Zweitklassiges Mahl aus erstklassigen Zutaten

-

Umberto Eco bei einem Interview im Oktober 2010

(Foto: AFP)

Umberto Eco liefert mit "Die Geschichte der legendären Länder und Städte" einen Reiseführer der Phantasie von Liliput über Atlantis bis Mittelerde. Leider merkt der Leser schnell, wie wenig Zeit und Energie Eco in dieses Buch investieren konnte oder wollte.

Von Burkhard Müller

Sie haben nie von Lemuria gehört? Dabei war es ein kompletter Kontinent, der einen großen Teil des Pazifischen Ozeans einnahm und zu einer Wiege des Menschengeschlechts wurde; eine ganze Wissenschaft, die Lemurologie, befasst sich mit nichts anderem. Ein Jammer, dass es unterging.

Agartha hingegen kann gar nicht untergehen, weil es von Anfang an tief unter der Erdoberfläche lag. Denn daran, dass die Erde hohl ist, lässt sich kaum zweifeln - wenigstens dann nicht, wenn man dem geheimen Tagebuch des amerikanischen Admirals und Kriegshelden Richard Evelyn Byrd folgt, der über den Nordpol flog und statt einer Eiskappe eine riesige Öffnung und eine Temperatur von 23 Grad Celsius vorfand. "Es knattert in unserem Funk. Eine Stimme spricht uns in englischer Sprache an. Die Stimme hat einen deutschen Akzent: 'WILLKOMMEN IN UNSEREM GEBIET, ADMIRAL!!!' (. . .) Es kommt eine kleine Gruppe von Männern zu unserem Flugzeug. Sie sind alle sehr groß und haben blonde Haare. Weiter hinten sehe ich eine beleuchtete Stadt. Sie scheint in Regenbogenfarben zu strahlen. (. . .)" Nach diesem Vorfall erbittet Byrd eine Unterredung mit dem amerikanischen Präsidenten (das wäre damals Truman gewesen), der ihn nachdrücklich ermahnt, über alles, was er erlebt hat, zu schweigen.

Auf der Suche nach der Stadt aus Gold

Wer solche Berichte für leere Hirngespinste hält, der übersieht, wie sehr sie die Phantasie der Menschen entflammt und wirkliche Taten herbeigeführt haben. Die Zahl der Publikationen über Atlantis liegt im siebenstelligen Bereich. Die Nazis erweisen sich als sehr empfänglich für die Überlieferung von Thule und dem alten Volk der Hyperboräer im äußersten Norden. Himmler rüstet angeblich im Jahr 1938 eine Expedition nach Tibet aus, im Glauben, dass das legendäre Shambala die Urheimat der Arier gewesen sei. Schon einige Jahre früher war die bolschewikische Geheimpolizei da gewesen, um die Vereinbarkeit dieses alten irdischen Paradieses mit dem neuen sowjetischen zu prüfen. Die Spanier schenken dem Märchen von Eldorado, der Stadt aus Gold, Gehör, und ihre Erwartungen werden in Peru und Mexiko vollauf befriedigt. Die Suche nach den zehn verlorenen Stämmen Israels, nach den Goldminen des Königs Salomon, nach dem Garten Eden und dem Quell der ewigen Jugend regt Expedition um Expedition an, solange, bis die Erde, wie wir sie heute kennen, komplett kartiert ist.

Fünfzehn solcher phantastischer Länder und Länderkomplexe - denn diese Gebilde sind in der Regel schlecht gegeneinander abgegrenzt - hat Umberto Eco in seinem neuen Buch zusammengestellt. Das Phantastische an ihnen trägt dabei durchaus variablen Charakter. Da gibt es die eingestandenen Erfindungen, sei es mit satirischer Absicht, wie das Zwergenreich Liliput und die fliegende Insel Laputa aus Gullivers Reisen, sei es zu pädagogischen Zwecken wie das Utopia des Thomas Morus. (Die Utopien sind übrigens von allen Märchenländern die entschieden langweiligsten.)

Da gibt es die schlecht ausgeleuchteten Peripherien in den ernsthaften Reiseberichten von Herodot bis Marco Polo, in deren Zwielicht sich Bauchgesichtler tummeln und Menschen, die sich in ihre Ohren wie in eine Bettdecke wickeln. Da gibt es die Traumländer, die plötzlich als Tatsachen dastehen (das Reich des christlichen Priesterkönigs Johannes zum Beispiel, auf das die Portugiesen schließlich in Äthiopien stoßen), und umgekehrt für unentbehrlich gehaltene Hypothesen wie die vom südlichen Riesenkontinent Terra Australis, der sich im Licht der Forschungsreisen auflöst wie Nebel, eine Enttäuschung, von der noch der Name des vergleichsweise winzigen Australien die Spur bewahrt. Da gibt es Ausgeburten der Sehnsucht wie das Schlaraffenland und bösartige Lügennetze wie das um das Schloss Rennes-le-Chateâu.

Eco macht nichts aus seiner Einsicht

Alle diese Geschichten sind entweder wahr oder falsch oder (meistens) irgendwas dazwischen. Aber schlechthin vorhanden sind die Bilder, welche die Menschheit sich von ihnen gemacht hat. Diese, Hunderte von ihnen, in hervorragender Druckqualität und die Mehrzahl wohl auch dem Kenner unbekannt, sind der eigentliche Schatz dieses Buchs. Die englischen Präraffaeliten vertiefen sich schwärmerisch in die Tafelrunde des Königs Artus, Thomas Cole entwirft ein hinreißendes Szenario des brennenden Atlantis, die mittelalterlichen Mönche laufen zu Hochform auf, wenn sie mit ihren leuchtenden Pigmenten Greife und Seeungeheuer erschaffen dürfen. Man hat den Eindruck, als wäre es für diese Künstler eine Art von Urlaub, zwischen ihren seriöseren Aufträgen auch mal einen Ausflug ins Unverbürgte zu machen; oft fallen da auch zweitrangigen Malern ganz überraschende Gestaltungen ein. "Sie verankern die Gestalten in einer unauslöschlichen Realität", sagt Eco von ihnen, "nehmen sie ins Museum unserer Erinnerung auf. Die Helden und Länder gibt es nicht mehr (oder sie haben nie existiert), aber ihr Bild ist unbestreitbar."

So ist es. Aber - und hier muss nun doch von der Schattenseite des herrlich bunten Projekts die Rede sein - Eco macht nichts aus seiner Einsicht. Er behandelt all diese wunderbaren Bilder, auch wenn er ihnen eine komplette Doppelseite einräumt, bloß wie Illustrationen und äußert sich nicht weiter dazu. So sieht man etwa ein höchst anmutiges Paar, in Stein gemeißelt am Dom von Modena, das zwei Antipoden darstellt. Die Antipoden, die Gegenfüßler im Süden, bedeuten für Antike und Mittelalter ein Hauptproblem bei der Vorstellung, die Erde sei eine Kugel: Warum fallen sie nicht herunter? Denn dass die Schwerkraft ins Zentrum der Erde wirkt und nicht schlechthin "nach unten", das war noch lange unbekannt. Die kleine Skulptur löst die Frage auf höchst einfache Weise: Die eine der beiden Frauen sitzt auf dem Boden, die andere, gedreht wie ein typografischer Zwiebelfisch, hockt an der Decke und blickt empor, das heißt hinab - und man glaubt es ihr. Was hätte sich dazu nicht alles zeigen und erzählen lassen!

Kurze Einleitungen und lange Fußnoten

Doch die Kraft zu solch erzählerischer Integration hat Umberto Eco nicht, oder er macht jedenfalls hier keinen Gebrauch von ihr. Dasselbe gilt für die schriftlichen Quellen: Statt dass er sie in seinen eigenen Text hereinholt, sie einschmilzt, akzentuiert, weiterspinnt, reicht er sie als lange Zitatenfolgen am Schluss jedes Kapitels nach, in kleinerer Schrift und spaltig gesetzt. So ist es ein Buch geworden, das im Wesentlichen aus kurzen Einleitungen und langen Fußnoten besteht, dem Prinzip der Reihung folgend, statt die Dinge miteinander zu verweben.

Einmal nur hat man den Eindruck, dass er richtig aufwacht, und zwar wo es um die Widerlegung von Dan Browns Thesen vom Gral und der Familiengründung durch Jesus und Maria Magdalena geht; hier schlüpft er in die Rolle des zornig-spöttischen Aufklärers. Doch ansonsten schreckt er nicht einmal davor zurück, aus seinen eigenen alten Büchern zu zitieren, als ob sie eine Quelle wären wie alle anderen auch. Man merkt daran, wie wenig Zeit und Energie Umberto Eco insgesamt in dieses Buch investieren konnte oder wollte: ein Koch, dem lauter erstklassige Zutaten zugeflogen sind und der daraus ein zweitklassiges Essen gemacht hat.

Umberto Eco: Die Geschichte der legendären Länder und Städte. Aus dem Italienischen von Martin Pfeiffer und Barbara Schaden. Carl Hanser Verlag, München 2013. 480 Seiten, 39,90 Euro.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: