Süddeutsche Zeitung

Neues Buch von Haruki Murakami:Unter dem Zen-Garten lauern die Geheimnisse

Haruki Murakami erzählt in seinem neuen Roman "Die Ermordung des Commendatore" vom Reich der Geister. Und er beginnt eine neue Trilogie.

Von Burkhard Müller

Farbe und ihre Abwesenheit: Das war ein zentrales Thema auch schon im bisher letzten Roman von Haruki Murakami gewesen, der den Titel trug "Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki". Sein Held hatte sehr darunter gelitten, dass in dem unverbrüchlichen Freundschaftsbund, dem er angehörte, die anderen vier Mitglieder alle Namen hatten, in denen die japanischen Wörter für Rot, Blau, Schwarz und Weiß vorkamen - nur er war leer ausgegangen.

Jetzt, in Murakamis neuestem Buch, steht ein Maler im Mittelpunkt, 36 Jahre alt, in dessen Leben und Kunst vieles ungewiss geworden ist. Da er in der Ichform erzählt, erfährt der Leser seinen Namen nicht. Er zieht sich, von seiner Frau verlassen und der ewigen Porträt-Aufträge überdrüssig, nach einer längeren Irrfahrt mit seinem alten Auto in ein einsames Berghäuschen zurück, das ihm ein Freund überlassen hat. Seinen Lebensunterhalt verdient er mit Kunstunterricht in der Volkshochschule der nächsten Kleinstadt. Da naht sich ihm eines Tages ein schon etwas älterer Herr, der ihm einen unvernünftig hohen Preis bietet, wenn er von seinem Vorsatz, nie wieder Porträts anzufertigen, abrückt und ihn malt. Dieser Herr trägt einen Anzug, für den weiß eine zu schwache Bezeichnung wäre; von einer die Augen blendenden Schneeweiße ist er, und auch sein Haar hat dieselbe reinweiße Farbe. Er stellt sich mit "Menshiki" vor und überreicht eine Visitenkarte, auf der dieser offenbar sehr ungewöhnliche Name mit den Zeichen für "Farbe" und "vermeiden" geschrieben ist.

Die Sprache dieses Buches ist, wie immer bei Murakami, klar und schlicht, und doch spürt der Leser, dass diese gut aufgeräumte Oberfläche, die an einen Zen-Garten erinnert, Geheimnisse birgt. Das größte und offensichtlichste Geheimnis liegt in der Figur des Ich-Erzählers, eines sympathischen und etwas passiven, nicht mehr ganz jungen Mannes, der sich niemandem aufdrängt und den andere doch gern ins Vertrauen ziehen. Aber offensichtlich gibt es Dinge, die er über sich selbst nicht weiß: Er scheint wie unter Betäubung zu leben, in einem Schmerz, den er gar nicht zu fühlen vermag. Auf geradezu kindlich unbedachte Art schildert er den Sex mit einer älteren Frau, die ihn ungefähr einmal pro Woche besuchen kommt; doch bei diesen freundlichen und erfreulichen Begegnungen, wie man beim Lesen immer mehr bemerkt, fehlt etwas: das emotionale Element.

Wie oft bei Murakami, erhellt sich die eine Seite, während sich die andere verdunkelt

Die vielleicht bemerkenswerteste Eigenschaft von Murakamis Schreiben besteht darin, dass gerade solche emotionalen Fehlstellen eine hohe emotionale Kraft besitzen; man ahnt, dass an solchen blinden Orten die eigentliche Verletzung steckt, und diese Ahnung versetzt das Gewebe des Buchs in Schwingungen von niedriger Frequenz, die aber gerade so durch und durch gehen.

Die Gegenwart breitet sich vor Erzähler und Leser so hell und offen aus wie die Landschaft, in der das Buch spielt. Aber in sie hinein sendet die Vergangenheit ihre Signale. Die unbestimmt geheimnisvolle Atmosphäre verdichtet sich zu Rätseln, die nach und nach auftauchen; auftauchen auch im buchstäblichen Sinn, denn es findet sich zum Beispiel auf dem vom Erzähler bewohnten Grundstück plötzlich ein sorgsam ausgemauerter, brunnenförmiger Schacht. Wozu um alles in der Welt hat er gedient? Und was hat es mit dem kleinen, glöckchenbesetzten Instrument auf sich, das auf dessen leerem Grund liegt? In manchen Nächten hatte der Erzähler Schellenklang vernommen.

In dem Haus, in dem er Zuflucht gefunden hat, lebte und arbeitete früher der Vater des Freundes, ein berühmter Maler, der inzwischen zum dementen Pflegefall geworden ist. Als der Erzähler eines Tages den Dachboden aufsucht, in dem er merkwürdige Geräusche gehört hat, stößt er dort nicht nur auf die Verursacherin, eine kleine Eule, die jetzt, am Tage, schläft und zu der er sich sofort stark hingezogen fühlt, wie sie da so sitzt, einer geflügelten Katze gleich, sondern auch auf ein dick eingewickeltes Paket, das, nach seiner Staubschicht zu schließen, dort schon viele Jahre unberührt steht. Er wagt es, es auszupacken, und hat das Gemälde in der Hand, das dem Buch den Titel gibt: Die Ermordung des Commendatore.

Zu sehen ist, dargestellt im Stil einer bestimmten mittelalterlichen Epoche Japans, das Duell zwischen einem alten und einem jungen Mann. Der junge stößt dem alten sein Schwert ins Herz, dieser, noch nicht tot, wirkt mehr erstaunt als entsetzt, indem schon das Blut aus ihm herausschießt, während eine erschrockene junge Frau und eine dienerartige Figur dabeistehen und aus einer Luke im Boden (aber wo kommt mitten im Gelände so eine Luke her?) eine Figur mit starrem Blick und länglichem Gesicht, das einer gebogenen Aubergine ähnelt, hervorsieht. Es handelt sich zweifellos um ein bedeutendes Kunstwerk, aber es ist von bestürzender Gewaltsamkeit. Der Erzähler erkennt sofort: Nachdem er dieses Bild gesehen hat, von dem er zunächst noch überhaupt nichts begreift, wird sein Leben nicht bleiben, was es war; und seine Kunst, wie sich alsbald herausstellt, auch nicht. Er wird die Farbe neu für sich entdecken, und zwar gerade bei der Arbeit am problematischen Bildnis des schneeweißen Herrn Menshiki.

Was bitte ist ein Commendatore? Dem musikbegeisterten Erzähler geht plötzlich ein Licht auf: Das ist der Großkomtur aus Mozarts Oper, der von Don Giovanni getötet wird und dann als Steinerner Gast wiederkehrt, um den Frevler in die Hölle zu holen. Wie so oft bei Murakami erhellt sich die eine Seite des rätselhaften Gegenstands, während sich auf der anderen die Dunkelheit umso mehr vertieft.

Das Buch stellt den Auftakt einer Trilogie dar und gleicht darin Murakamis anderem, 2009 erschienenen Opus magnum, "1Q84". Doch hat es, soweit sich bisher absehen lässt, eine straffere erzählerische Ökonomie, allein schon darum, weil es sich mit einer einzigen Erzählperspektive begnügt. Und es bleiben genug lose Fäden übrig, dass man mit Spannung erwartet, wie es in den Bänden zwei und drei weitergeht.

Schon jetzt dürfte feststehen, dass sich nicht alle diese Fäden auf natürliche und realistische Weise verknüpfen werden. Es gibt auch ein Reich der Geister oder Ideen, das in die Welt der Menschen eingreift (aber nur, wenn es, wie der Steinerne Gast, zuvor eine Einladung bekommen hat); aus ihr kommt zum Beispiel das Püppchen in altertümlicher Tracht, das auf einmal nachts auf dem Sofa des Erzählers sitzt und zu sprechen beginnt. Murakami schafft es, dass man über die Reden, die dieser hochadelige Zwerg führt, lachen kann, ohne dass sich seine Unheimlichkeit vermindert.

Es fällt bei diesem Autor schwer, die besondere Qualität seiner Bücher exemplarisch in einem Zitat vor Augen zu führen; alles Einzelne wirkt bei ihm unscheinbar, bedeutsam ist das Ganze. Murakami ist ein sehr diskreter Zauberer.

Die Übersetzung stammt, wie bei den meisten seiner Bücher, von Ursula Gräfe. Man macht sich wohl nicht genügend klar, dass wir den Murakami, den wir schätzen und lieben, aus ihrer Hand empfangen haben. So viel an seinem Werk vollzieht sich ungreifbar und sozusagen unterirdisch, und was dies der Übersetzerin abverlangt, können westliche Leser nur erahnen. Dass wir hier nicht stolpern, dass wir verstehen, worum es geht, und das Geheimnis dennoch gewahrt bleibt, das verdanken wir ihr.

Haruki Murakami: Die Ermordung des Commendatore. Band I: Eine Idee erscheint. Roman. Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe. DuMont, Köln 2018. 479 Seiten, 26 Euro. E-Book 20,99 Euro.

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Quelle:
SZ vom 20.01.2018/khil
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