Neues Buch über Immunkrankheit:Große Faszination für die frühen und verzweifelten Tage der AIDS-Krise

Seehofer richtet im Namen des Cs heute noch Chaos an. Derweil haben nicht wenige der Überlebenden - diejenigen, die ab 1996 von der neuen antiretroviralen Kombinationstherapie profitieren konnten - ihre Erfahrungen und Emotionen innerlich verkapselt. Daher der Titel des Buchs. Reichert schreibt über die Schuldgefühle, die sich einstellen können, wenn man im Gegensatz zu anderen überlebt hat, manchmal als einziger der Clique. Da sind Trauer und Trauma. Da ist Scham. Und nicht selten etwas, das man internalisierte Homonegativität nennt. Sie ist die noch hässlichere Zwillingsschwester der Homophobie und kann bei Schwulen zu Gedanken führen, dass sie das Virus vielleicht aus irgendwelchen Gründen "verdient" hätten.

Reichert verschließt nicht den Blick vor diesem düsteren Emotions-Cocktail. Und weist darauf hin, dass die zunächst noch "Schwulenkrebs" genannte Krankheit zu Beginn der Achtzigerjahre die Community zu einem sehr heiklen Zeitpunkt traf. Der berüchtigte, noch aus der Nazi-Zeit übernommene Schwulen-Paragraf 175 war nach seiner Reform 1969 zwar entschärft, schwuler Sex seitdem nicht mehr grundsätzlich illegal. Das lag aber gerade mal etwas mehr als eine Dekade zurück. "Die Pflänzchen der Freiheit waren noch zart und klein, als der große Sturm kam", schreibt Reichert.

Zugleich erkennt er im Blick auf die heutige Gesellschaft, "dass das potenzielle Verschwinden der Schwulen, ihr Ausgelöschtwerden durch Aids, zu einer größeren Sichtbarkeit und längerfristig größeren Akzeptanz geführt hat". Wieder so ein Satz, bei dem man zusammenzuckt: Kann man so etwas schreiben angesichts von 28 000 Menschen, die in Deutschland seit Beginn von Aids gestorben sind? Man muss es so schreiben, denn es ist wahr. Genauso wie es wohl wahr ist, dass, wie Reichert überlegt, "auch die Bestattungskultur, Hospizbewegung, die Patientenmitbestimmung und die Gesundheitswissenschaft durch Aids maßgebliche Veränderungen und Impulse erfahren" haben.

Dieses Buch enthält genügend Stoff für Serien

Heute gibt es eine große Faszination für die frühen, die verzweifelten, aktivistischen Tage der Aids-Krise - vielleicht auch, weil es das Drama heute kaum noch gibt. Die Truvada-Pille bietet Schutz vor Ansteckung, die sogenannte Post-Expositions-Prophylaxe (PeP) wirkt auch nach einem mutmaßlichen Risiko-Kontakt noch. Das Ende, oder zumindest: die dauerhafte Neutralisierung des Virus, scheint fast greifbar, jedenfalls im medizinisch recht gut versorgten Westen.

Ganz anders noch sieht es in dem französischen Film "120 BPM" aus, der im vergangenen Jahr gefeiert wurde. Er zeigt, basierend auf wahren Gegebenheiten, den Kampf einer Pariser Aids-Aktivistengruppe, Act-Up, gegen Politik und Pharmaindustrie. Gerade läuft in den USA die neue TV-Serie "Pose" des Produzenten Ryan Murphy, der mit "Glee" und "American Horror Story" berühmt wurde. In ihr blickt man zurück in das New York der Achtzigerjahre, wo die afro- und latinoamerikanische queere Community - aus ihr stammen die Protagonistinnen und Protagonisten der Serie - vom Virus besonders getroffen wurde.

Geschichten der subkulturellen Solidarisierung und Selbsthilfe wärmen heute das Herz. In Deutschland gibt es nun dieses Buch, das auch genügend Stoff für Serien enthält. Etwa die Geschichte eines Mannes, der zur Zeit des Aids-Sterbens noch verheiratet war. Erst mit 50, als Sohn und Tochter aus dem Haus waren, wagte er sein Coming-out. Mit 62 dann die Diagnose. Seiner Ex-Frau und Tochter gegenüber verheimlicht er sie. Das Stigma, sich im fortgeschrittenen Alter wider besseres Wissen noch angesteckt zu haben, ist einfach zu groß. Nur mit seinem Sohn, der selbst schwul ist, kann er darüber sprechen. Nachdem er sich ihm anvertraut hat, "hat mein Schwiegersohn angerufen und gesagt, dass ich immer auf die beiden zählen kann". Da möchte man fast losheulen vor Ergriffenheit ob des Zusammenhalts, den es eben nicht nur in klassischen Mutter-Vater-Kind-Familien gibt, sondern auch in schwulen (Wahl-)Familien.

Exzellenter Filmstoff wäre auch die Story von Rita Süssmuth. Die CDU-Politikerin, von 1985 bis 1988 Gesundheitsministerin der BRD, ist so etwas wie der stille Star des Buchs. Reichert hat sie getroffen - diese "konservative, zutiefst christliche Politikerin", die damals auf einmal "über Anal- und Oralverkehr, und vor allem über Kondome" sprechen musste. Süssmuth erinnert sich, wie sie in ihrem Wahlkreis Göttingen Menschen kennenlernte "abseits der Klischees, die man von Homosexuellen hatte. Menschen mit einem Gefühl für Zärtlichkeit, die auch mit Kindern umgehen konnten. Das war für mich eine Entdeckung."

Rita Süssmuth machte Millionen locker für Aufklärungskampagnen und widmete sich - in offener Opposition zum moralisierenden Papst Johannes Paul II. und zum sogenannten bayerischen Parteifreund Peter Gauweiler - dem Kampf gegen Aids mit einer Unbeirrtheit und einem Pragmatismus, die heute vielleicht an Angela Merkel erinnern. "Dass es um Aufklärung statt um Ausgrenzung gehen muss, um Sorge für die Betroffenen", das gilt für Süssmuth heute noch. Sie sieht Parallelen zu anderen Herausforderungen: "Es gibt Situationen, da versinken Menschen vor Ratlosigkeit in Angst - es ist wie bei der Flüchtlingskrise."

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