Wer heute im Supermarkt an der Kasse steht, kann bei den sogenannten Quengelwaren - da, wo man sich sonst von Kindern zu Überraschungseiern nötigen lässt - oft noch zu Kondomen greifen. Wenn sie "Einhorn" heißen, sind sie sogar vegan, weil ohne Milch-Protein hergestellt. Oder sie heißen "Performa", dann ist vorne in der Spitze ein leicht betäubendes Gel drin, damit er nicht wieder so schnell kommt.
Dass es einem beim Kondomkauf heute egal ist, ob die anderen sehen, wie ökobewusst oder ausdauernd man vögelt: Früher wäre das undenkbar gewesen. Früher heißt: vor Aids. Und: vor dem legendären Fernsehspot der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung von 1989, in dem der Kunde Ingolf Lück rot wird, weil die Kassiererin Hella von Sinnen die Kondome, die er auf dem Band gut unter dem Gemüse versteckt hat, hervorzieht und quer durch den Laden ruft: "Tina, wat kosten die Kondome?"
Heute würde niemand mehr rot werden, und das ist eine der positiven Folgen von Aids. Klingt makaber, ist aber so. Falsch verstandene Pietät hilft ja auch nicht weiter, den Opfern des Virus sowieso nicht mehr. Das ist in etwa der Ansatz des Journalisten Martin Reichert, der in seinem Buch "Die Kapsel. Aids in der Bundesrepublik" auch weiß, dass die Kassiererin in der ersten Version des Spots nicht Tina hieß, sondern Rita - was geändert werden musste, weil "ein möglicher Bezug zur früheren Bundesgesundheitsministerin Rita Süssmuth unbedingt vermieden werden sollte".
Reichert legt mit "Die Kapsel" eine exzellent recherchierte, packende, dem Thema gemäß ernste, stellenweise aber eben auch humorvolle Geschichte des HI-Virus hierzulande vor. Mit Bundesrepublik ist nicht, wie sonst, nur die alte BRD gemeint. "Zum Zeitpunkt des Mauerfalls hatten sich offiziell 133 DDR-Bürger mit dem HI-Virus infiziert, bei 27 von ihnen war die Krankheit ausgebrochen", schreibt Reichert. In der BRD trugen zu diesem Zeitpunkt 42 000 Menschen das Virus in sich, 5000 waren erkrankt.
"Damals hatte man tatsächlich Angst, 'abgeholt' zu werden"
Die Mauer war, wenn man so will, das Kondom der DDR. Wobei man im Staatsratsgebäude durchaus drastische Maßnahmen ergriff. Zum Beispiel mussten Männer und Frauen aus sozialistischen Bruderländern, für die ein "besonderes Risiko" angenommen wurde, "einen negativen Test nachweisen, wenn sie in die DDR einreisen oder dort bleiben wollten".
Das erinnert an Bayern, wo sich die christlich-soziale Landesregierung aus dem Konsens der anderen westdeutschen Bundesländer ausklinkte. Der besagte, dass Stigmatisierung und Ausgrenzung Betroffener - meist homo- und bisexuelle Männer, daneben Drogenkonsumenten und Bluter - zu vermeiden sei. Heiner Geißler brachte das auf die Formel: "Ratio statt Razzia".
Martin Reichert, selbst schwul und seit 2004 Mitarbeiter der taz, mischt in seinem Buch essayistisches Schreiben und Faktengeschichte mit Porträts von Betroffenen und Protagonisten im Kampf gegen Aids. Unter anderem trifft er einen bayerischen Langzeit-Positiven, der sich 1985 angesteckt hat. Er kann sich noch gut an den diskriminierenden "Maßnahmenkatalog" der CSU erinnern: Zwangs- und Reihenuntersuchungen, Razzien und Verordnungen für sogenannte Risiko-Orte, etwa: ausgehängte Türen in Saunen, heruntergedrehte Heizungen in öffentlichen Toiletten.
Das Ziel war die Zerschlagung der schwulen Infrastruktur, statt diese in der Krise zu unterstützen und - Hilfe zur Selbsthilfe - in die Aufklärungsarbeit einzubeziehen. Horst Seehofer, schon damals Bulldozer und um keinen "Masterplan" verlegen, erzählte im Spiegel, der für den homophoben Unterton in seiner Aids-Berichterstattung berüchtigt war, vom Plan, Infizierte in "speziellen Heimen" zu "konzentrieren". "Damals hatte man tatsächlich Angst, 'abgeholt' zu werden", erinnert sich Reicherts Gesprächspartner. Viele verließen Bayern fluchtartig - und somit auch ihre Freunde, um die sie sich sonst hätten kümmern können. Ein Exodus, politisch herbeigeführt.