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Neues Buch: "Die Verwandlung der Lust":Orgasmus und Okzident passen nicht zusammen

Ein Historiker untersucht die Schicksale der Lust im Abendland: Galt die Unterdrückung der Sexualität jahrhundertelang alsTriebfeder für Höchstleistung und Wettbewerb? Und was geschieht nun mit uns?

Sabine Doering-Manteuffel

"So a bravs Weiberl, wie ich eins krieg, hat noch nie keiner net ghabt!" Doch Bauer Roman aus Ludwig Ganghofers "Dorfapostel" sollte sich gründlich irren, denn seine taubengleiche Julie, auf den ersten Blick eine ländliche Unschuld par excellence, trieb es in Wahrheit heimlich mit dem Knecht. Unter den strengen Blicken der Alten, die über die Sitten wachten, vergingen sich die Jungen in Wald und Scheuer, zwischen Stalltür und Regentonne. Glaubt man der Heimatdichtung der Jahrhundertwende, dann tat sich selbst in den entlegensten Winkeln des Landes bereits eine Kluft auf zwischen christlicher Tugendlehre und dem offenen Vollzug sexueller Freiheiten.

Die Kohlrabiaugen und blitzenden Mieder der Dorfschönen wirkten auf die strammen Burschen wie Aphrodisiaka, die sie sogar Standesunterschiede vergessen ließ. Das soziale Gefüge schien verwirbelt, die Frühgeschichte der sexuellen Revolution hinterließ erste Spuren selbst bei den Frommen und Aufrechten. Die Widerspenstigkeit gegen unverhohlen eingeforderte Liebesbeweise war bei beiden Geschlechtern schon zur Attitüde verkommen.

Robert Muchembled, einer der namhaftesten französischen Historiker, setzt sich in seinem Buch "Die Verwandlung der Lust" - im Original "L'orgasme et L'occident" - mit der sexuellen Ökonomie des Abendlandes zwischen Mittelalter und Gegenwart auseinander.

Pornographische Wende

Von Kirche, Recht und Anstand geprägt, von den alltäglichen Gewohnheiten untergraben, werden den Lesern die vorfreudianischen Freuden und Leiden alteuropäischer Liebeslust vom 16. bis 18. Jahrhundert vor Augen geführt. Diese Epoche der relativen Freiheiten, gar des herzhaften Zupackens, wird kontrastiert zum sittenstrengen Viktorianismus des bei ihm sehr lang geratenen 19. Jahrhunderts.

Es habe erst nach 1960 durch die Emanzipation der Frau, mithin durch die Antibabypille, geendet und sei dann in eine Ära der sexuellen Beliebigkeit übergegangen. Der "postmoderne Narzissmus", in dem die Gelüste des intimen Ichs mit den offenen Sexualnormen übereinstimmen, sei eine Folge des Individualismus der westlichen Gesellschaften seit den siebziger Jahren.

Während in den Jahrhunderten zwischen der höfischen Welt des Mittelalters und der Französischen Revolution Konventionen von Liebe, Sex und Ehe stets neu ausgehandelt wurden, bedingten die neuen Druckmedien einen nicht unbeträchtlichen Teil der Standardisierung des Normgefüges.

Muchembled spricht von der durchgreifenden Wirkung der pornographischen Wende in der Mitte des 17. Jahrhunderts, deren Erzeugnisse im 19. Jahrhundert, als dem klassischen Zeitalter der männlichen Doppelmoral, in den publizistischen Untergrund wanderten. "Hinter dem Spiegel" und "unter den Schleiern der Viktorianer" mit ihrer Zurschaustellung von Ehe- und Familienglück blühten die Nachtgewächse des Unbewussten, etwa in der literarischen Figur des Mr. Hyde, der als Abspaltung und Doppelgänger des Biedermanns Dr. Jekyll seinen dunklen Trieben freien Lauf ließ.

Sigmund Freud vermochte diesen Schleier durch die Traumdeutung zu lüften: Er sah die Sprengkraft verdrängter Wünsche bei seinen Patienten in der täglichen Praxis, wenn sie zu ihm kamen mit ihren neurotischen Anverwandlungen, die in einer bizarren Symbolwelt aufgingen. Doch hatte nicht schon Immanuel Kant lange vor Freud festgestellt, jeder Mensch habe einen inneren Gerichtshof in Form des Gewissens, dessen furchtbare Stimme sich in Albträumen, Schuld und Scham erhebe?

Gelenkt vom Unterleib

Die Sumpfgewächse bürgerlicher Doppelmoral sieht Muchembled nicht nur beim Neurotiker, sondern auch in Kulturstilen ganzer Gesellschaften verwurzelt. Eine These durchzieht das Werk, die aufhorchen lässt: Muchembled behauptet, dass die Sublimierung und gesellschaftliche Unterdrückung des Geschlechtstriebs im Europa der guten Sitten, die Europäer zu kulturellen Hochleistungen regelrecht angetrieben habe, gewissermaßen energetisch umgelenkt vom Unterleib in Architektur und Kunst, in Kolonialismus und Weltmachtstreben.

Die Quellen für diese These stammen zumeist aus Frankreich und England, was uns froh machen kann. Ist die europäische Expansion also eine kollektivneurotische Reaktion auf ein puritanisches Triebleben? Und wo wären wir ohne sie?

Lesen Sie weiter auf Seite 2, wie die sexuelle Revolution in der Gegenwart endet.

Die "zivilisierte Moral", die auf zwei Pfeilern ruhe, dem "verschworenen Schweigen" und ebenjenem doppelbödigen Verhalten, habe eine kraftvolle Männlichkeit geschaffen, die sich außer Haus bewähren musste, im Bordell genauso wie im Handel oder im Krieg. Auf dem Höhepunkt viktorianischer Repression, in den Jahren zwischen 1850 und 1880, sei dieser Zug vor allem der englischen Gesellschaft eigen gewesen. Er habe sich unter anderem in einer Flut pornographischer Schriften jeglicher Provenienz geäußert.

Das Janusgesicht der sexuellen Doppelmoral habe sich erst nach dem Zweiten Weltkrieg verändert und sei einer nüchternen, unromantischen, aber letztlich auch unerotischen Betrachtungsweise von Liebe, Lust und Sexualität gewichen.

Frauen und Homosexuelle

Es waren die Reihenbefragungen des 20. Jahrhunderts, der Kinsey-Report ebenso wie die berühmte Studie "Human Sexual Response" von Masters und Johnson, welche einen epochalen Umbruch im Verständnis des Sexuellen teils herbeigeführt, teils analytisch nachvollzogen haben. Die Gründe für den Sinneswandel liegen in der zuverlässigen Verhütung, der Akzeptanz der weiblichen Lust, der Masturbation, der Abtreibung und der Pornographie sowie der Homosexualität.

Der gemeinsame Kampf von Frauen und Homosexuellen für ihre Rechte gehört seit einem halben Jahrhundert zur sogenannten sexuellen Revolution, die sich freilich schon vor dem Ersten Weltkrieg - wie bei den Ganghoferschen Dorfschönen - überall in Europa andeutete. "All you need is love", sangen die Beatles 1967. Die Hippiebewegung feierte im selben Jahr ihren "summer of love", der in die Geschichtsbücher einging.

Doch waren die sechziger Jahre, gemeinhin als das entscheidende Jahrzehnt der beginnenden Libertinage zwischen den Geschlechtern gefeiert, nicht selbst ein später Ausdruck jener puritanischen oder auch wilhelminischen Drillpädagogik?

Die explosive Kraft der Sublimierung, die sich gar ins Revolutionäre zu wenden vermochte, sieht der Volksaufklärer Oswalt Kolle noch bei den Achtundsechzigern am Werk, indem er über sie lästert: "Das waren doch alles Tübinger Pfarrerssöhne, die keinen Orgasmus bekamen." Man könnte aber auch fragen, ob wir nicht in einem Zeitalter der verkehrten Doppelmoral leben, in dem das offene und öffentliche Gerede von der freien Liebe den häuslichen Biedersinn bloß überdeckt.

Skeptisch

Robert Muchembled schließt seine lange Wanderung durch die Geschichte der Sexualität im Abendland mit einer eher skeptischen Betrachtung. Die "Gesetze des Marktes" und die "Diktatur des Orgasmus" trieben den Einzelnen zu Höchstleistungen und zum andauernden Wettbewerb an, nun auch zwischen den Geschlechtern. Die Offenlegung der eigenen Lust im privaten und im gesellschaftlichen Leben zeige, dass soziale Beziehungen unter dem Druck des Neoliberalismus stetig neu ausgehandelt werden müssen. Die Zurschaustellung der Lust in den Medien sei eine List der Kultur, das Verbotene zum Zweck der Geschlechterbindung zu instrumentalisieren.

Das kenntnisreiche Buch liest sich weniger als Sexualgeschichte, vielmehr als eine überzeichnete Pathologie des Abendlandes. Das befreite, aber deformierte Ich, nach verbindlichen Normen suchend, bildet den trostlosen Endpunkt dieser Entwicklung.

Nach der Lektüre gewinnt man den Eindruck, Orgasmus und Okzident passen einfach nicht zusammen. Doch im Zeitalter der Globalisierung können wir neue Hoffnung schöpfen, denn in der Nacht ist der Mensch nicht gern alleine und irgendwo auf der Welt gibt's bestimmt ein kleines bisschen Glück.

ROBERT MUCHEMBLED: Die Verwandlung der Lust. Eine Geschichte der abendländischen Sexualität. Aus dem Französischen von Ursel Schäfer. DVA, München 2008. 384 Seiten, 24,95 Euro.

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Quelle:
SZ vom 26.6.2008/rus
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