Leonard Cohen war seinem Lebensthema noch nie so nah wie jetzt. Als Künstler genau wie als Mensch. Es ist fast 50 Jahre her, da trat er, damals Mitte dreißig, zum ersten Mal als Sänger in Erscheinung. Und seit damals handeln seine Texte von Vergänglichkeit, Trauer und Tod. Wenn er Liebeslieder singt, beschwört er stets das Verflossene. Wenn er Sehnsüchte beschreibt, dann unerfüllte. Und wenn er vom Leben erzählt, dann immer auch von dessen Endlichkeit.
Jetzt ist Cohen 82. Und das gerade erschienene Album "You Want It Darker" könnte sein Letztes sein. Es ist eine Platte voller Abschiede, und zählt genau deshalb zum Besten, was Cohen je veröffentlicht hat. Im Angesicht des Endes scheint er ganz bei sich zu sein: "I am leaving the table / I am out of the game." Er verlässt den Tisch, ist raus aus dem Spiel. Dies ist das 36-minütige Testament eines Künstlers, den viele für den besten Songschreiber unserer Zeit halten. Bob Dylan sagte kürzlich, er sehe niemanden, der auch nur in Cohens Nähe komme. Bono meinte einmal, er würde alles dafür geben, nur jene Texte zu bekommen, die Cohen verwirft.
Cohen besingt Fehlentscheidungen, bedauert seine eigene Naivität
Auf aktuellen Fotos wirkt Leonard Cohen abgemagert, sein Kopf erscheint riesengroß auf dem zerbrechlich gewordenen Körper. Doch sein Blick unter dem Fedora-Hut ist klar und unbeugsam wie immer. Er habe erst im Alter die Freiheit gefunden, sich voll auf seine Poesie zu konzentrieren, hat er gerade dem New Yorker in einem seiner seltenen Interviews erzählt. Es gebe keine Verpflichtungen mehr, die ihn ablenken könnten. Doch er hat Schmerzen, ist müde, muss sich oft zwingen, überhaupt etwas zu essen, um nicht allzu bereitwillig zu kooperieren mit dem Tod, der nach ihm greife. Er arbeitet weiter an neuen Liedern, erzählt er, doch glaubt selbst nicht mehr daran, sie noch fertig zu bekommen. "Ich bin bereit, zu sterben. Ich hoffe, es wird nicht zu unangenehm."
Cohen hat die Aussage mittlerweile ein wenig relativiert ("Ich möchte 120 werden"). Auf "You Want It Darker" kann man dennoch beides hören: das Einverständnis mit dem eigenen Tod wie auch das Unbehagen gegenüber dem Sterben. Schon im Eröffnungsstück deklariert er auf hebräisch: "Hineni, Hineni", hier stehe ich, und dann auf Englisch: "I am ready, my lord", vor einer schlichten, aber theatralischen Begleitung: kaum hörbares Schlagzeug, eine eingängige Bassfigur, Kirchenorgeln und ein Männerchor, der nach gregorianischen Mönchen klingt. Später beschwört er einen Schmerz, der so stark sei, dass er blind macht und realer wird als alles andere. Der Sänger: "Please don't make me go there / Though there be a god or not." Bitte nicht diese Schmerzen, selbst wenn dahinter ein Gott warten sollte.
Auf den ersten Blick hängen die acht neuen Songs nicht unmittelbar zusammen, doch es gibt Motive, die sich durch das Album ziehen. In mehreren Liedern besingt Cohen Fehlentscheidungen, bedauert seine eigene Naivität, Momente der Vergangenheit. Oder ist es gar nicht er selbst, sondern irgendein Erzähler? Cohen kam einst von der Lyrik zur Musik. Wer in seinen verschlüsselten Texten spricht, war stets offen für Interpretation. Ebenso unklar ist, ob er sich an einen Freund, sein Publikum oder ein höheres Wesen wendet, wenn er bedauert, dass er einen Geist aus seinem Gegenüber gemacht habe: "I am so sorry for the ghost I made you be. Only one of us was real and that was me."
Weil ihn das Pendeln zwischen Studio und Wohnung zu sehr anstrengte, hat Leonard Cohen das Album in seinem Wohnzimmer in Los Angeles eingesungen. Die Gesangsparts gingen per E-Mail an seinen Sohn Adam, der erstmals als Produzent einer Platte seines Vaters auftritt. Seine Instrumentierung ist klug dosiert und vielseitig, aber niemals opulent: Gitarre, Klavier, Streicher, Chöre, Orgeln. Im Vergleich zu den letzten Alben tritt die Begleitung in den Hintergrund; Cohens Stimme schwebt über allem. Ausdruck gibt er ihr mehr über den Rhythmus als über Modulation, es ist ein dunkler Sprechgesang von einer Tiefe, gegen die selbst der späte Johnny Cash wie ein Tenor wirkt.
Die Gitarre nahm er in die Hand, weil mit Schreiben nicht genug zu verdienen war
Das "Geschenk seiner goldenen Stimme" besingt Cohen ironisch in einem seiner stärksten Stücke, "Tower of Song" von 1988. Dabei hatte er ursprünglich nicht einmal singen wollen. Die Gitarre nahm er in die Hand, weil mit Schreiben allein nicht genug zu verdienen war. Sein erster Gitarrenlehrer nahm sich nach drei Unterrichtsstunden das Leben. Er habe keine Ahnung, was den Mann umgetrieben habe, sagte Cohen später, aber die sechs Akkorde, die er ihm in diesen drei Gitarrenstunden beigebracht hatte, die hätten ihm gereicht.
Auf der griechischen Insel Hydra, seiner damaligen Wahlheimat, vertonte er später die ersten Gedichte, dort traf er Marianne Ihlen, für die er viele Songs schrieb, allen voran das berühmte "So Long, Marianne". Ihlen ist vor wenigen Wochen gestorben. Tage vor ihrem Tod schrieb Cohen ihr in einem Brief: "Ich werde dir bald folgen."
Es gibt ein einziges Liebeslied auf dem neuen Album, und auch dieses klingt, als könnte es sein letztes sein. In "If I Did Not Have Your Love" schließt Cohen nicht mit einer oder allen Frauen seiner Biografie ab, sondern verabschiedet sich dankbar von der Liebe selbst, die sein Leben gerettet hat. Am Ende schließlich steht ein beinahe wortloses Stück, minutenlang nur Streicher, kein Bass, kein Schlagzeug, keine Stimme. Als wäre der Erzähler bereits verschwunden, als lasse Cohen, der Meister der Worte, sein Publikum nur mit einer Melodie zurück. Doch dann setzt die "goldene Stimme" doch noch einmal ein, wenige Sekunden vor Schluss, für fünf letzte Zeilen. Es ist vorbei, alles steht auf der Kippe: "It's over now, the water and the wine. We were broken then, but now we're borderline."