Neues Album von Wilco:Mittendrin im Pluralismus

Gitarrenlärm ist tot, hilflos und blöd. Doch die Band Wilco erhebt sich über die Dogmen der Moden. Auf ihrem neuen Album "The Whole Love" hängt über allem eine schwarz sengende Sonne und immerzu trällert etwas "Beatles! Beatles!" - so entsteht die wunderbarste Musik.

Karl Bruckmaier

Nichts geht über zwei Gitarren, einen Bass und ein Schlagzeug. So heißt es bei Lou Reed, der gerade mit Metallica ein Album aufgenommen hat und auch sonst weiß, wie man seinen Nimbus als Knallschote wahrt. Lous abgehangenes Verdikt kollidiert nun mit dem schlechten Ruf der Rockmusik in der Öffentlichkeit: Tot sei der Gitarrenlärm, hilflos und blöd. Von gestern. Seit den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts komme die sonische Wahrheit über Sex, Drogen und den ganzen Rest aus den Schaltkreisen von Laptops und nicht mehr aus einem Verstärker, in den ein versoffener Indianer mit einem Bleistift Löcher gebohrt hat, auf dass es besser dröhne und brumme. Raw Hide ade. Jay-Z nach Glastonbury. Rockmusik, das sind Status Quo in Plattling, das ist Christina Stürmer im Möbelhaus. Das ist ein Sommernachmittag mit der ganzen Familie im Stadion.

Klassische Moderne - das neue Rock-Meisterwerk von Wilco

Vertreter einer klassischen Moderne in der Rockmusik: Wilco mit (von links) Patrick Sansone, Mikael Jorgensen, Jeff Tweedy, Nels Cline, Glenn Kotche und John Stirratt.

(Foto: dpa)

Stimmt alles. Scheint alles zu stimmen. Beinahe. Selbst Jeff Tweedy, Sänger und Gitarrist der in Chicago ansässigen Rockband Wilco, hat es offenbar eingesehen. Schon das Bild auf dem Cover des neuen Albums "The Whole Love" erinnert eher an alte Synthesizer, an verdrahtete Computer, an einen Haufen Vintage-Elektronik als an die pastorale Verlassenheit, auf die Singer/Songwriter und Rockmusiker heute optisch so gerne setzen: das Außenklo als Rückzugsort einer bedrohten Musikgattung. Nicht nur das Cover, die gesamte Artwork von "The Whole Love", gestaltet aus Arbeiten der Malerin Joanne Greenbaum, atmet diese etwas naive Sehnsucht, zur rechten Zeit am rechten Ort zu sein, dem Heute nämlich, und die ersten Sekunden, ja Minuten des neuen Wilco-Albums scheinen diesen Eindruck einer Flucht nach vorn zu bestätigen: Elektronisch präparierte oder generierte Klänge stolpern aus den Boxen, wie sie Indie-Bands gern verwenden, wenn sie signalisieren wollen, dass sie nicht von gestern sind. Streicher schwellen, Tweedy singt Becketthaftes, Synthies pluckern wieder. Der Beat hängt unentschlossen zwischen Clave und Dubstep; so geht das minutenlang, deutet manchmal einen (Rock-)Song an, verneint; alles ist, was es ist, nur beinahe, so singt es auch der Sänger: "almost". Es geht um die Kunst des Fast, die "Art of Almost". Und gerade wenn man beginnt, sich anzufreunden mit dem sehr transparent produzierten Songfähnchen aus tausend Klangfäden, wenn man Tweedys immer etwas weinerlichem Studentenorgan erneut vertraut - doch holen wir erst einmal das Stammbuch heraus.

Jeff Tweedys Band Wilco entstand, weil Songwriter Jay Farrar 1994 die gemeinsame Band Uncle Tupelo verließ, eine verlässliche Größe im gerade entstehenden Americana-Genre, Stichwort: Flanellhemd. "Du wirst schon sehen, wo du ohne meine depressiven Songs landest!" In den Billboard Charts, kann Jeff Tweedy heute antworten, aber "A.M.", das Wilco-Debüt von 1995, war noch nicht mehr als ein anständiges Country-Rock-Album. Daher überraschte wohl auch der Nächstling "Being There" Kritiker und Musikfans so dermaßen. "Being There" war der pure Überfluss. Der Teufel hatte Tweedy in die Bar im Sears Tower geführt, und zu seinen Füßen lag nun die gesamte Historie der von ihm so sehr geliebten Musik. "Alles deins", flötete der Versucher. "Ich weiß", soll Tweedy geantwortet und seine Cola selber bezahlt haben. Die erste Doppel-CD der Popgeschichte, die einen nicht ins Koma langweilt, reihte mit leichtester Geste Stilelemente der Grateful Dead, der Rolling Stones, der Beatles, Neil Youngs und meinetwegen Tim Buckleys, ohne auch nur eine Sekunde epigonal zu erscheinen. Nicht einmal der Verdacht, es handle sich hier um Zitatpop, konnte ernsthaft aufkommen.

Die Stücke flogen einfach von selber. Aus dem Fenster. Uns um die Ohren. Das war die Zukunft der Rockmusik. Nur wollten diese zu Hochzeiten von House und Techno zu wenige Menschen hören. Wilco blieben so lange ein Geheimtipp, bis es der Plattenfirma Reprise zu bunt wurde: erst mit dem englischen Salon-Linken Billy Bragg Songs von Woody Guthrie veröffentlichen, dann dieses "Yankee Hotel Foxtrot"-Album, da war ja wieder kein Hit drauf! Für ein paar zehntausend Dollar kaufte Tweedy seine Band frei und stellte die Songs via Internet zur Verfügung. Der Rest ist, wie man hintnach immer so schön sagen kann, Geschichte: Ein Jahr nach der Netz-Offensive wurde "Yankee Hotel Foxtrot" von einem anderen Label als CD vermarktet und enterte spielend die amerikanischen Top Twenty, wo seither fast jede Veröffentlichung von Wilco ihren Platz findet. Auch ohne Hits.

Wie ein Hain junger Birken stehen die Klänge kraftvoll, etwas schief auch im Raum

Was sich wie eine fast ungebrochene Geschichte von Erfolg und Eigensinn lesen lässt, hat natürlich auch eine andere, dunklere Seite. Der launische und aufbrausende Tweedy verschleißt Bandmitglieder im Akkord; er selbst musste vor knapp zehn Jahren einen Tablettenentzug durchstehen und der frühere Wilco-Gitarrist Jay Bennett ist im Vorjahr an einer Überdosis Schmerztabletten gestorben. Wilco bewegen sich auf unsicherem, ja gefährlichem Terrain und das ist ihren besten Songs auch anzuhören. Hier ist sie wieder, diese Vernetzung von Rock und Authentizität, beinahe: Wir schalten zurück in Minute fünf des Album-Openers "Art of Almost" - dann klappt ein betont stumpfer Boogie nach außen, und über die Rampe rollt ein Gitarrensolo ins Zimmer, das sich so schon sehr lange nicht mehr auf den vom "guten Geschmack" blank gebohnerten Parkettboden verirrt hat. Omar Rodriguez Lopez dengelt manchmal dergestalt - aber doch nicht Wilco?

Aber "Art of Almost" liegt nur wie ein umgestürzter Tagebaubagger vorm Tor ins Tweedy-Paradies. Schon die ersten Sekunden des zweiten Songs "I Might" - wieder ein Titel voller Ambiguität - trennen die musikalische Abräumhalde von dem geradezu klassisch zu nennenden Wilco-Album, das sich nun entfaltet. Zuallererst fällt der Sound auf. Wie ein Hain junger Birken stehen die einzelnen Klänge kraftvoll und selbstverständlich im Raum (ein bisschen schief auch); auf den dem Hören der CD vorausgegangenen YouTube- und Stream-Erforschungen war davon nichts zu ahnen. Stereoanlage rules hier okay.

Zwischen Snare, Kirmes-Keyboard, schnalzender Rhythmusgitarre und dem wärmsten aller Bässe kann Jeff Tweedy gelassen seine Sangesmatten aufspannen und seine Phantasie in leichte, aber unterschwellig gefährliche Schwingungen versetzen: "It's alright/You won't set the kids on fire/Oh but I might". Kinder verbrennen im Park? Über allem eine schwarz sengende Sonne. "I loathe the sun", ich verabscheue die Sonne, singt Tweedy wie der Schattenbruder George Harrisons; das ist die Sonne über den Kasernen der GIs in Irak und Pakistan, das ist die Sonne aus "Hell". Die Musik verrät uns das fast nicht; sie tut freundlich und fürsorglich, trällert dauernd "Beatles! Beatles!" und macht, was die beste amerikanische Rockmusik seit jeher tut: Sie imitiert Briten, die wiederum Amerikaner imitieren. Seit Big Star in den Siebzigern entsteht so die wunderbarste Musik. Und nach dem unzeitigen Tod von Alex Chilton hat Jeff Tweedy an einem weiteren Erbe zu tragen: "It just dawned on me . . ."

Dieses Album wird die oberen Ränge der US-Charts erreichen. Wilco werden eine begeisternde Herbst-Tournee spielen, beflügelt vom eigenen Erfolg, getragen von der Zuneigung ihres Publikums. Zusammen mit den Flaming Lips, Lambchop, den Jayhawks oder Calexico werden sie ganz selbstverständlich die Geschichte der Rockmusik weiterschreiben, von deren legendären Gründervätern (und -müttern) sie sich nur unterscheiden, weil sie Zweit- und Drittgeborene sind und nicht mehr einer Jugendbewegung vorstehen, sondern mittendrin im Pluralismus torkeln. Von ihrer Musik wird es einst heißen, nichts gehe über zwei Gitarren, einen Bass und ein Schlagzeug. Und, okay, einen Computer dann und wann.

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