In einer längst versunkenen Epoche war es der Jazz, der als widersprüchlich und gefährlich galt. Aus der Reibung zwischen physischer Intensität und Improvisationslust auf der einen, Virtuosität und Disziplin auf der anderen Seite, entstand eine abenteuerliche Energie, die heute versiegt ist. Wer nun im 21. Jahrhundert das sucht, was Jazz ausgemacht hat, wird es im Jazz nicht finden. Das entsteht anderswo. Zum Beispiel im sogenannten "Math Core". Zum Beispiel bei "The Dillinger Escape Plan" (DEP).
Math Core muss man sich so vorstellen, als hätten Quantenmechaniker ihre Liebe für Metal, Hardcore und Punk entdeckt und ihre Anzüge gegen Streetwear und Tattoos getauscht. Math Core ist Brachial-Pop für Hochbegabte, Furor-Jazz für Algorithmiker. DEP, gegründet 1997 in Morris Plains, New Jersey, haben dieses Genre mit ihrem akustischen Brutalismus maßgeblich geprägt. Was zunächst wie ein Fliegerangriff mit lockerem Streubombeneinsatz klingen mag, sind de facto ausgeklügelte, nachgerade akademisch konstruierte Kompositionen.
Wut und Arbeit
Wenn sich Bandmitglieder wie DEP-Gründer und Gitarrist Ben Weinman zu ihrem Schaffen äußern, dann formulieren sie hintersinnige Sätze, die nicht zum Dummsprech des Rockzirkus passen: "We never want to be an assembly line of riffs. [...]In reality life is up or down; life is chaotic; and all you can do is jam with it and jam with life. Play jazz with it and improve and try to make something cool out of whatever stuff is going your way." "Spiel Jazz mit dem Leben, dann wird's auch was!", lautet die Botschaft. Albentitel wie "Calculating Infinity" (1999) oder "Ire Works" (2007) deuten darauf hin: Infinitesimalrechnung und Ekstase, Wut und Arbeit sind hier die beiden Seiten einer Medaille.
Wut und Arbeit, und zwar hochqualifizierte, das bringt die Ästhetik von DEP auf den Punkt. Auch auf dem soeben erschienenen Album "One of Us Is the Killer" sind eigentlich alle Standards der E-Musik inklusive des Jazz versammelt, nur eben in den höchsten Härtegraden der eingeschränkt populären U-Musik: vertrackte Tempi- und Taktwechsel, Pendelbewegungen zwischen Unisono- und Frickel-Passagen, Variationsreichtum in der Dynamik, improvisatorische Einwürfe in Nachbarschaft zu monotonen Anti-Grooves und eingängigen Emocore-Melodien, subtile Soundcollagen bis hin zum Ambient.
Und immer, wenn es allzu verkopft zu werden droht, prügelt ein Punk- oder Metalriff die ganze Sophisterei zu Klump. Sollte auch das nicht helfen, springt Sänger Greg Puciato von hohen Gerüsten ins Publikum oder kackt live auf die Bühne.
Zwar erreicht das neue Album nicht ganz die Qualität früherer DEP-Meilensteine wie "Miss Machine" (2004), dessen atmosphärisches Spektrum von bitterem Zynismus über hymnisches Pathos und Generation-X-Nihilismus bis hin zur Tobsucht reicht und seinesgleichen sucht.
Dennoch kommt man nicht umhin zu konstatieren: DEP sind und bleiben eine der wichtigsten und inspirierendsten Bands der jüngeren Popgeschichte, insofern sie dem nie versiegenden "Unbehagen in der Kultur" (Sigmund Freud) eine zeitgemäße Form verleihen. Die Komplexität, Schnelligkeit, Überreiztheit und Aggressivität, aber auch die Energie, Kreativität und Freiheit des Lebens in den urbanen Zentren wurden wohl selten besser zur Darstellung gebracht als in dieser Musik - so alternativ wie utopiefrei, so inspiriert wie resigniert, so obszön wie raffiniert. Ähnlich wie die Lust im professionellen Pornofilm eine hochgradig artistische und streng reglementierte Sache ist, bricht sich die Wut bei DEP ausschließlich auf kontrollierte Weise Bahn.
Herrschaft des Abstrakten und Kult des Vitalen
Die Vielzahl der Kontexte, die DEP dabei aufrufen, spiegelt nicht zuletzt den Pluralismus innerhalb der Band wider. Während Weinman ein Vegetarier und Abstinenzler mit einem ausgeprägten Bewusstsein für Ethik ausgestattet ist, konsumiert Puciato Fleisch und Drogen, betreibt Hardcore-Bodybuilding und ist mit der Pornodarstellerin Jenna "Anal Starlet" Haze liiert.
Im Math Core von DEP treffen gleichsam jene beiden Grundelemente zusammen, die für das Leben in den modernen, städtisch geprägten Gesellschaften typisch sind. Einerseits das, was Oswald Spengler die "reine Zivilisation" nannte: die Herrschaft des Anorganischen, Abstrakten, Technischen, Inhumanen, Numerischen. Andererseits das, was die US-amerikanische Kultur der Postmoderne mit sich brachte: den Kult des Vitalen, Entgrenzten, Innovativen, Individualistischen.
Vor allem aber beweisen DEP eindrucksvoll, dass Pop längst mehr ist als Jugendkultur und bloße Party. Pop ist zugleich die Überwindung und die Totenmesse seiner selbst, ein ätzender Abgesang auf die süßen Verheißungen der Spaßgesellschaft - bezeichnenderweise haben DEP unlängst die Plattenfirma "Party Smasher Inc." gegründet. Die alte Party ist tot, nun ist eine neue Party im Gange, bei der sie wirklich alle miteinander tanzen: die heiteren Gespenster des Jazz, die Untoten des Metal, die sentimentalischen Gemüter des Emocor, die kunstaffinen Intellektuellen. Mit DEP bewahrheitet sich, was der Kunsthistoriker Beat Wyss einmal über den Pop schrieb: "Pop braucht keine Kunst, da er die Kunst ersetzt."