Neues Album von Scott Walker:Pechschwarzer Schmerz

Zwischen großer Kunst und prätentiösem Blödsinn liegt oft ein schmaler Grat. 95 Prozent aller Pop-Künstler betreten ihn lieber gar nicht erst. Das einstige Teenie-Idol Scott Walker schon. Sein neues Album "Bish Bosch" verstört - und ist gleichzeitig sagenhaft konkret.

Von Joachim Hentschel

Was macht der Engel in der Hölle? Geht er da freiwillig hin, jeden Tag, so wie andere Leute ins Büro? Und denkt der feine Herr dabei auch mal an uns, das Publikum, das ihm ins Fegefeuer hinterherdackeln muss?

Die Menschheit mit so schmerzhafter, unzugänglicher, steinbrockenhafter Musik zu plagen, wie sie auf "Bish Bosch" (4AD) zu hören ist, dem 14. Soloalbum des Sängers Scott Walker, das an diesem Freitag erscheint: Eigentlich hätte das niemand weniger nötig als er. Walker, geboren in Ohio, ist ein sensationell gut aussehender Mann, auch mit 69. Seine Singstimme: ein samtbeschlagener, mit Wildhonig polierter, direkt in die Herzen diffundierender Bariton, der aus alten Romeo-Zeiten zu künden scheint oder aus einem Cyber-Jenseits, das wir noch nicht kennen. Walker hat immer noch die Aura des Teenager-Popidols, das er in den Sechzigerjahren war, als seine Walker Brothers in England einen größeren Fanclub hatte als die Beatles. Es dürfte feststehen, dass er absolut freiwillig in die avantgardistische Hölle seiner neuen Musik geht. Weil er ja, wenn er wollte, auch überall sonst hin könnte.

"The Sun Ain't Gonna Shine Anymore" heißt das Stück, das wirklich jeder kennt. 1966 ein Beatclub-Schummerstunden-Superhit für die Walker Brothers, mit Scott als Leadstimme, dem blonden Cowboy. Wenn die Liebe weg ist, sagt der Song, scheint keine Sonne mehr, kein Mond - ein Nachtsänger war er schon damals, mit dem Unterschied, dass Scott Walkers Nächte zwei Jahrzehnte lang warm und filmreif waren, vom Rauch leichter, europäischer Zigaretten durchweht, auf inbrünstige Art einsam. Heute brechen die Nächte bei ihm schockartig ein. Sie sind leer, kerkerschwarz, geruchslos. Und man weiß nie, wie lange sie dauern werden.

Markerschütternde Geräusche, blutpumpende Rhythmen

Walkers neues Album "Bish Bosch" klingt wie der liturgische Gesang eines allerletzten, apokalyptischen Gregorianers. Als würde man der Schönheit beim Sterben zuhören, mit markerschütternden Geräuschen, dunkel blutpumpenden Rhythmen. Mit viel Stille, plötzlichen Attacken, Ketten- und Knochengerassel. Dem Knurren rätselhafter Tiere, Säbeln, die im Takt gewetzt werden, imitierten Fürzen. Mit Alptraumgeigen, wie sie in Horrorfilmen schreckliche Gäste ankündigen, Samba- und Jazzclub-Momenten, die trügerische Ruhe verbreiten.

Sollte es Menschen geben, die sich zum fröhlichen Feierabend gern noch mal "Persona" von Ingmar Bergman oder Paul Celans Todesfuge reinpfeifen, Bilder von Hans Bellmer und Hieronymus Bosch über dem Bett und Jonathan Littells "Wohlgesinnte" auf dem Nachttisch haben - die können "Bish Bosch" schön zum Einschlafen hören.

Molekularbiologie, Sternbilder und Kalter Krieg

Mit "Tilt" von 1995 und "The Drift" von 2006 hat er schon zwei ähnliche Anti-Pop-Alben veröffentlicht, auf die Kritiker verstört reagierten, an denen sich Geschmacksdebatten entzündeten und die Neo Rauch im Leipziger Atelier einlegt, wenn ihm gerade mal nicht nach Rammstein ist. Es ist natürlich eine großartige Geschichte: der Schmelz- und Schmalzsänger, der in Depression und Alkoholismus rutscht, irgendwann Jacques Brel entdeckt, den Existenzialismus und die Neue Klassik, dann 30 Jahre nach seiner Bravo-Starschnitt-Zeit als großer, wirrer Tonkünstler wiederaufersteht. Gewaltige Lautgedichte verfasst, seine Musiker im Studio auf Schweinehälften trommeln und in Widderhörner tuten lässt.

Alle daran erinnert, dass zwischen Kunst und prätentiösem Blödsinn ein äußerst schmaler Grat liegt, den 95 Prozent aller Popgruppen gar nicht erst betreten, sicherheitshalber. Dass Walkers schwarze Vision auch sehr alberne Momente hat, dass sein Großpoeten-Gestus die Musik öfter mal auf eine Fallhöhe hebt, die schwindelerregend und eher ungesund wirkt - wer das einräumen kann, kommt den Song-Ungeheuern wohl am nächsten.

Viel interessanter ist jedoch die Frage, woher diese seltsame Musik überhaupt kommt. Warum sie mit seinem Frühwerk so wenig zu tun hat (in dem man rückblickend aber schon die Saat des Unheils zu hören glaubt). Ob sie Bartók, Penderecki, Industrial-Rock und Musique concrète wirklich mehr verdankt als den einen oder anderen Rippenstoß, und das hat Scott Walker schon selbst halb beantwortet: Die Stücke beginnen als Texte. Als Worte auf Papier, die er dann in jahrelangem Brüten mit Musik und Sound illustriert. Deshalb wird "Bish Bosch" auch mit einem separat gebundenen Libretto ausgeliefert, einer Art Theaterpausenheft mit Fußnoten, die einige Songs erklären. Man kann mitlesen, sich räuspern, Sachen unterstreichen und Fremdwörter rausschreiben.

Und da gibt es einige, denn Walker deklamiert und singt hier über Molekularbiologie, schräge Sternbilder, epidemische Krankheiten und den Kalten Krieg, Vivisektion und Frösche-Aufpusten, den Ku Klux Klan, den Tiroler Nazi-Unterschlupf Sterzing und die Hinrichtung des rumänischen Diktators Ceausescu. "Singt über" ist allerdings etwas irreführend: Er reißt die Geschichten an, schaut zu, was aus ihnen herausrieselt und wie es sich mit dem mischt, was aus den anderen so rinnt.

Scott Walker zu hören, das fühlt sich oft ein bisschen so an, wie einen Film von Alexander Kluge zu gucken. Auf der letzten Platte "The Drift" gab es zum Beispiel ein atemberaubendes Stück über den assoziativen Zusammenhang zwischen Elvis Presleys totgeborenem Zwillingsbruder und dem Einsturz der Twin Towers. Die neue, 21-minütige Großkomposition "SDSS1416+13B (Zercon, A Flagpole Sitter)" handelt vom verkrüppelten Hofnarren des Hunnenkönigs Attila, dem Walker in einem wilden Brainstorm ein Nachleben als Pfahlsitzer andichtet. Erzählt klingt es lachhaft. Deshalb singt er es ja.

Denn das ist das wahrhaft Fantastische an der komischen Musik von Scott Walker, und darum muss man diese Zumutung wohl ertragen: weil er als einer der ganz wenigen Unterhaltungsmusiker diese absolute Freiheit der Assoziation an sich reißt, die alle sonst nur der Literatur überlassen. Weil seine Stücke eben kein bisschen abstrakt sind, sondern sagenhaft konkret - jedes Wort kann man nachschlagen. Und weil zwischen allen denkbaren Missverständnissen, Rätseln, freiwilligem und unfreiwilligem Klamauk sogar ein überraschendes politisches Potential in diesen Liedern liegt. Liedern, die jede leere Redewendung umkurven, jedem poptypischen Eskapismus den Weg versperren.

Ein rotglühendes Revolutionslied

"The Day The ,Conducator' Died", der letzte Song, endet zwar saisonal versöhnlich mit der "Jingle Bells"-Melodie. Unmittelbar davor steht jedoch einer der stärksten Refrain-Slogans: "Nobody waited for fire", sechsmal wiederholt, weil an Weihnachten 1989 eben keiner der Ceausescu-Erschießer bis zum Feuersignal gewartet hatte. Ein rotglühendes Revolutionslied, wie es zuletzt keine westliche Rockband hingekriegt hat.

"Bish Bosch" also als schicke schwarze Tapete zu verwenden, das wäre das Schlimmste, was man tun könnte. Scott Walker will uns weh tun, mit voller Absicht. Verschwindet dann im Pechschwarz. Ob er dort Spinnenbeine zählt oder Currywurst isst, das steht vielleicht auch irgendwo zwischen den Zeilen.

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