Neues Album von Bon Iver:Wie ein einsamer Schmerzensschrei im verschneiten Wald

Bon Iver in Sydney, 2012

Der Leidensmann: Bon Iver 2012 in Sydney.

(Foto: Getty Images)

Neo-Folk-Halbgott Justin Vernon alias Bon Iver kehrt nach langer Pause mit einem neuen Album zurück. Bleibt die Frage, wie viele Haken ein Popstar eigentlich schlagen darf?

Albumkritik von Max Fellmann

Justin Vernon hat eine Menge Krisen hinter sich. Beziehungskrisen. Selbstfindungskrisen. Künstlerkrisen. Vor zehn Jahren zog sich der Mann aus Wisconsin, damals Mitte 20, mit einer Gitarre in eine Holzhütte zurück, mitten in den einsamen Wäldern seiner Heimat. Er kämpfte mit der Resonator-Gitarre (ein schweres, blechernes Gerät), er suchte nach einer neuen Stimme, weil er seine gewöhnliche nicht mehr mochte, also versuchte er es mit Falsett, das erschien ihm angenehm fremd. Und schließlich schälten sich aus dem Kampf mit dem Ungewohnten Lieder heraus, wundervolle Lieder. Folksongs, die neu und eigen und ungewöhnlich klangen.

Der Mann nahm sie mit ein paar Musikern unter dem Bandnamen Bon Iver auf (französisch auszusprechen, wie "bon hiver", guter Winter). Die Aufnahmen bearbeitete und verfremdete er ein wenig am Computer. Das Ergebnis nannten manche "Folktronica". Das Album "For Emma, Forever Ago" wurde 2008 zum Soundtrack einer Generation, die gerade von Williamsburg, Brooklyn, aus mit frisch gewucherten Vollbärten und Holzfällerhemden die westliche Welt zu bevölkern begann (den Begriff "Hipster" lassen wir jetzt unauffällig in der Jackentasche verschwinden). Und ausgerechnet Justin Vernon, dieser Leidensmann, den man sich so gar nicht im Berliner Internet-Café vorstellen kann, wurde zu einer ihrer Leitfiguren. In veganen Bistros, auf Studentenpartys, aus MP3-Playern am Flussufer, überall waren sie zu hören, diese schmerzvollen, brüchigen Songs, mit dieser einzigartigen Falsettstimme, die so hundeheulend dünn und verletzlich klang. Nur Vernon selbst fand "For Emma, Forever Ago" eigentlich zu schön geraten, er wollte weniger Gitarre, mehr Elektronik. Das erste Album war die Musikspur zum Hipstamatic-Foto: körnig, retro, ein Hauch von Manufactum und vergilbtem Papier. Vernon drehte die kühlen Blau-Töne rein, seine Angst vor Gefälligkeit ließ das zweite Album "Bon Iver, Bon Iver" ziemlich akademisch geraten.

Justin Vernon hasste den ganzen Zirkus, die Termine, die Plattenfirmenmenschen

Ausgerechnet der Hip-Hop-Star Kanye West entdeckte ihn dann, verwendete Bon Iver-Samples auf seinen Alben, und Vernon sang auf Wests Album "Yeezus". Plötzlich wurde der Waldschrat mit den schütteren Haaren und dem filzigen Bart zum Darling auch der Glamourösen und Schönen. Bis er vor vier Jahren plötzlich verkündete: Alles zu viel. Stop. Auszeit.

Es ging ihm schlecht. Sehr schlecht. Der Mann wusste nicht, wie er weiter Musik machen sollte. Er wusste nicht, wohin mit sich selbst. Er hasste den ganzen Zirkus, die Termine, die Plattenfirmenmenschen. Und seine Stimme und sein Gitarrenspiel gleich dazu. Irgendwann machte er eine Reise auf die griechische Insel Santorini. Wollte auf andere Gedanken kommen. Aber Vernon hatte nicht bedacht, dass Winter war, alles geschlossen, er stapfte ratlos am windigen Strand entlang. Nach fünf Tagen zielloser Spaziergänge bekam er Angstzustände. Sein Herz verkrampfte. Panikattacken. Schnell zurück nach Hause, zum Arzt. Diagnose: Depression. Dem britischen Guardian erzählte Vernon vor Kurzem: "Es war nicht gut. Es war schlecht, schlecht, schlecht und dann richtig schlecht, für lange Zeit."

Irgendwann aber schaffte er es, seine Ratlosigkeit in Lieder zu übersetzen. Er spielte wieder Gitarre, er summte Melodien vor sich hin, fand einzelne Zeilen, die ihm im Kopf blieben. Wie damals in der Waldhütte. So entstanden zwölf Songs, die er nun auf dem Album "22, A Million" veröffentlicht. Dass Vernon alles wieder ganz anders machen wollte, ist schon an den Songtiteln erkennbar: "22 (OVER S¥¥N)". "715 - CRSSKS". Oder "___45___" und "666 &hibar;". Puh, ja. Und die Musik dahinter? Das Album beginnt mit gesampleten Stimmen, hochgepitcht, in knacksenden Schleifen. Es klingt, als würde jemand probieren, was sich mit einem Sampler so anstellen lässt. Tastend, suchend. Das Gegenteil eines beherzten Auftritts. Dann setzt Vernons Falsett ein, zum Chor verdoppelt, verdreifacht, wehmütig. Alles vertraut, für einen Augenblick - aber das Stück bricht nach einer Strophe wieder ab, zerfällt, mäandert, blutet aus.

Und es geht durchwachsen weiter. Oft singt Vernon gegen den Computer an, als wär's ein Kampf Mensch gegen Maschine. Je leidenschaftlicher sein Gesang, umso vehementer verfremdet er die Aufnahme, zersägt sie. Als würde ein Maler das zu idyllisch geratene Bild mit dem Tacker bearbeiten. Mutig - aber schade. Denn gerade Vernons Stimme war ja so eigen. Es ist, als wolle er sich jetzt von ihr distanzieren, obwohl sie ja auch schon eine Distanzierung war. Eine endlose Flucht.

Wenn einer ununterbrochen Haken schlägt, werden die Haken erwartbar

"33 ,God'", gospeliger Chor, rumplige Beats, ist ein Hinweis, warum ausgerechnet Kanye West auf ihn aufmerksam wurde. Da stolpert Vernon vom umgebauten Folksong hinterrücks in den Neo-Soul, entdeckt ungeahnte Verbindungen. Erst viel später ist mal die akustische Gitarre zu hören, die "For Emma, Forever Ago" so geprägt hat. Kurz erlaubt sich Vernon Melodien und Akkorde, die an Seventies-Softrock erinnern.

Vernon hat praktisch alles abgelehnt, was ein Popstar zur Veröffentlichung eines neuen Albums tun sollte. Er gibt kaum Interviews, er wollte keine Fotos, auf denen sein Gesicht ganz zu sehen ist. Die Songs präsentierte er erst mal bei einem winzigen Festival, das er selbst ins Leben gerufen hatte, die unaussprechlichen Songtitel wurden den Zuhörern live per Smartphone-App übermittelt.

Auf seine weltabgewandte Weise ist Vernon damit absolut ein Kind der Zeit. Sogar die größten Popstars sind ja die Gesetze des Marktes leid und die Plattenfirmen, die einst alles eisern im Griff hatten. Beyoncé veröffentlicht ihre Alben einfach mal unangekündigt über Nacht, Radiohead löschen alle Daten von ihrer Website, um dann, nach allgemeinem Luftanhalten, plötzlich mit einem neuen Album zu verblüffen. Frank Ocean macht sowieso, was er will. In einem Markt, der längst nicht mehr funktioniert, wie er einst funktionierte, darf der komische Vogel Popstar freier fliegen als je zuvor.

Das Problem ist: Wenn einer ununterbrochen Haken schlägt, werden die Haken erwartbar. "21 MààN WATER" zum Beispiel könnte wunderschön sein, melancholische Akkorde, sanfter Gesang, der Klang von Maisfeld und Spätnachmittagssonne - dann streut Vernon nervige Geräusche ein, Elektro-Knirpseln. Aber beim dritten Mal fragt man sich eben nicht mehr, ob der MP3-Player kaputt ist, sondern man weiß längst, jaja, gehört so, verstanden.

Und trotzdem gelingen Justin Vernon auch auf diesem Album ganz wunderbare, ganz zarte Momente. Momente, in denen seine Stimme wie ein einsamer Schmerzensschrei im verschneiten Wald klingt. Momente, in denen die Gitarre leise sirrt, als würde nur der Wind über die Saiten streichen. Momente, in denen die Themen des Albums nicht nur in den Zeilen zu hören, sondern auch in den Tönen zu spüren sind: Trauer und Sehnsucht, Angst und Liebe und Ewigkeit.

Justin Vernon war immer ein Suchender. Es bleibt faszinierend, ihm auf seiner Suche zu folgen. Und ja, es ist eine riesige Erleichterung, dass sie überhaupt weitergeht. Das Album beginnt er mit der pessimistischen Zeile "It might be over soon, soon, soon". Es könnte bald, bald, bald vorbei sein. Immerhin, für die folgenden 34 Minuten ist es noch nicht vorbei. Hoffen wir das Beste.

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