Süddeutsche Zeitung

Neues Album von Beck:Vom Blatt

Seit den Neunzigern ist der amerikanische Sänger und Songwriter Beck der Mann für die besten skurrilen Ideen im Pop. Jetzt veröffentlicht er sein Meisterstück: Das neue Album gibt es nur als illustrierte Notensammlung.

Von Max Fellmann

Ein Notenband also. Kein Album, keine CD, kein MP3-Stream, sondern ein ganz klassisches Notenbüchlein, einfache Songs, gesetzt für Klavier und Gesang, mit Akkordsymbolen. Beck, klar, war immer schon ein Mann mit skurrilen Ideen, aber das hier ist vielleicht das Cleverste, was er oder überhaupt einer im Pop der vergangenen Jahre gemacht hat. Statt einfach im ewigen Turnus das nächste Album zu veröffentlichen, bringt er unter dem Titel "Song Reader" (Faber & Faber) seine neuen Lieder in Notenform unters Volk, und zwar: nur in Notenform. Wer hören will, der spiele. Selbst.

Die Idee der populären Musik war ja immer, sich ein Instrument zu schnappen und ohne klassische Ausbildung möglichst viel herauszuholen. Die Wucht des euphorischen Dilettantismus. Als Gegenentwurf zur biederen Ordnung, zu spießigen Elternhäusern und nicht zuletzt auch zur ewig braven bürgerlichen Hausmusik. Das Musizieren nach Noten, das sorgsame Einstudieren von Stücken nach exakten Vorgaben: laaaangweilig. Pop wollte genau das Gegenteil. Und jetzt kommt plötzlich einer, der durchaus als einer der Avantgardisten der Popmusik gilt, und gibt sich ganz klassisch: Also, dann übt mal schön.

Beck entstammt einer Künstlerfamilie, sein Großvater war der Fluxus-Künstler Al Hansen, sein Vater ein Dirigent und Studiomusiker. Und auch wenn er am Anfang seiner Karriere gern so tat, als sei er ein idiot savant, der eher so irgendwie auf der Gitarre schrammelt und dazu etwas ziellos herumnölt - das war immer Show. Der Mann weiß genau, was er tut. Aber unter Popmusikern gehört es nun mal zum guten Ton, keine Noten lesen zu können. Wer zugibt, dass er Ahnung von theoretischen Hintergründen hat, gilt schnell als Streber. Notenlesen ist nicht cool.

Beck sieht das anders. Im äußerst lesenswerten Begleittext zu seinem "Song Reader" erzählt er von einem alten Bing-Crosby-Schlager, der in den Dreißigerjahren in den USA so erfolgreich war, dass angeblich 54 Millionen Ausgaben der Noten verkauft wurden. Das heißt: 54 Millionen Mal fanden Menschen es reizvoll, das Lied nicht nur zu hören, sondern selbst zu spielen. Das heimische Musizieren erfüllte damals natürlich eine ganz andere Funktion als heute. In den Zeiten, in denen noch nicht jeder Haushalt von Radios und iPods mit Hits versorgt wurde, mussten die Menschen selbst spielen, um Musik zu hören. Hausmusik war nicht bloß Konsum, sondern Freizeitgestaltung, Familienleben, Gaudi. Mit dem Aufkommen der Tonträger ging viel davon verloren.

Diesmal wollte er es anders machen

Aber auch der Sinn der Aufnahmen hat sich im Lauf der Jahrzehnte völlig verändert: Noch vor achtzig Jahren ging es vor allem darum, eine Aufführung zu dokumentieren. Heute entsteht Popmusik im Studio, an einzelnen Gitarrenspuren oder Gesangszeilen wird endlos gearbeitet, und erst wenn die Platte perfekt produziert ist, schließt sich die Darbietung an: die möglichst präzise Kopie beim Live-Konzert.

Beck bedauert das. Und erzählt dazu: "Nachdem ich Mitte der Neunzigerjahre ein Album herausgebracht hatte, schickte man mir die Noten dazu, ein Verleger hatte Piano-Transkriptionen in Auftrag gegeben. Als ich sah, wie die klanglichen Vorstellungen da zu Notation destilliert waren, wurde mir klar, dass die meisten meiner Lieder nicht so angelegt waren, dass sie so funktionieren." Diesmal wollte er es anders machen. Die Songs schreiben, den Rest aber anderen überlassen, den Hörer zum Interpreten machen.

Und was hört der Hörer/Interpret da also, wenn er sich brav durch die Songs arbeitet? Eine Reihe hübscher Fingerübungen, Folksongs im Wesentlichen. In jedem Lied widmet sich Beck einer anderen Sparte. "Don't Act Like Your Heart Isn't Hard" könnte die Art von Folklore sein, auf die sich auch Bob Dylan am Anfang berief, sehr simpel, drei Grundakkorde, eine Melodie aus wenigen Tönen. "Do We? We Do" ist eine schöne Rumpelpolka mit Wechselbass, eine Art Tom-Waits-Song. Im Idealfall sollte man das wohl eher auf dem Klavier spielen als mit einer Gitarre (ein Akkordeon würde auch passen). "Like I Told You Before, No Means No" ist eins von diesen Stücken, wie Beck sie immer schon gern geschrieben hat, ironisch gebrochener Folk. Bei ihm selbst klingt das dann oft, als würde er improvisieren, und das ist einer seiner besten Tricks. Wer gezwungen ist, das nach Noten zu spielen, verliert leicht den Faden.

Am hübschesten ist "Now That Your Dollar Bills Have Sprouted Wings". Das Lied knüpft bei den Gaudisongs der Zwanziger- und Dreißigerjahre an. Eine einfache Country-Begleitung, eine simple Melodie, die eine Geige vertragen könnte. Die Andrews Sisters hätten so etwas gut singen können, früher. Der Text ist ein Pastiche alter US-Schlager: Die Dollarscheine haben Flügel bekommen, sie sind auf und davon geflogen, und der, der da singt, sitzt jetzt allein und arm da und weiß nicht mehr weiter, aber immerhin: Er betrachtet seine Situation mit einem Augenzwinkern.

Sehr nett ist der "Mutilation Rag", ein Klavierstück, das auch von Chilly Gonzales sein könnte, kein Text, dafür lustige Anmerkungen über den Notenzeilen, die den Fortgang des Stücks kommentieren: "All is well, the song begins like any other"; "the right hand causes offense"; "growing uneaseness now". Musik als Finger-Kasperltheater. Richtig berührend ist "America Here's My Boy", ein Lied, das ganz unironisch an die Tradition des Kriegs- bzw. Antikriegslieds anschließt: Beck singt aus Sicht einer Mutter, deren Sohn im Kampf fällt. Sie erhält den Brief mit der Todesnachricht und erinnert sich an ihren Jungen, der einst im Hof Soldat spielte. Der Song funktioniert auf zwei Ebenen: Man staunt über die Präzision, mit der Beck den Gestus einer anderen Zeit imitiert - zugleich nimmt einen die Geschichte, die das Lied erzählt, tatsächlich mit.

Der Witz ist natürlich, dass die Arrangements fehlen. Ausgerechnet bei Beck. Bei dem es doch sonst immer so darauf ankommt, was er aus seinen Songs macht: Mal lässt er sich die Platten von den Dust Brothers, Danger Mouse und anderen Sample-Großmeistern produzieren, dann wieder spielt er Lieder fast nur mit Gitarre, wie ein klassischer Sänger und Songwriter. Die Stücke in diesem Notenband jetzt - tja, wer sie allein zu Hause mit Klavier oder Gitarre spielt, wird an ruhige Beck-Alben wie "Mutations" denken. Würde man aber hie und da einen billigen Drumcomputer mitlaufen lassen oder da und dort eine verkratzte Hip-Hop-Platte dazumischen - es käme vielleicht der Zitatbastler-Beck raus.

Das Großartige ist: Während man sich auf diese im Pop längst so unübliche Weise mit Musik beschäftigt, wird die Offenheit des Konzepts "Popsong" klar. Da ist ein Lied, es ist nur ein Vorschlag, jetzt kann alles passieren. Man hat es selbst in der Hand. Man wird Teil des Ganzen. Wenn man es sich am Klavier, an der Gitarre oder, egal, am Alphorn erarbeitet, kommt dabei ein Song heraus, der vielleicht zu siebzig Prozent von Beck ist, aber eben auch zu dreißig Prozent von einem selbst: ein Song, den in dieser Form niemand anderes auf der Welt kennt.

Eigentlich kommt Beck mit dieser Idee genau zur richtigen Zeit. Es gibt ja eine gesellschaftliche Bewegung zurück zum Selbermachen. Michelle Obama pflanzt Gemüse im Garten des Weißen Hauses, bei Amazon verkaufen sich Ratgeber über Brotbacken und Handwerken sehr gut, Stricken und andere Handarbeitstechniken werden zum Trend ausgerufen. Warum also nicht auch endlich wieder selbst musizieren? Wer sich Akkorde am Klavier zusammensucht, setzt der Konsumwelt - und übrigens auch der langsam sterbenden klassischen Musikindustrie - etwas Handgemachtes entgegen.

Dazu braucht man kein Klavier

Bleibt nur die Frage, was die Beck-Fans machen sollen, die nicht nach Noten spielen können. Sich ärgern? Ach was! Dazu ist das Buch viel zu hübsch gemacht, mit Leidenschaft, mit Sinn fürs Detail. Lauter schöne Schmuckseiten und Illustrationen, die meisten Lieder haben ein eigenes Titelblatt, gestaltet von Künstlern wie Marcel Dzama und Leanne Shapton, so wirkt das Ganze wie eine Sammlung der Notenhefte von früher, als man noch Songs einzeln im Laden bekam. Becks Essay über Noten, Schlager und die Entwicklung der Hausmusik ist, wie gesagt, sehr lesenswert, dazu braucht man kein Klavier.

Und natürlich können sich die Fans darauf verlassen, dass manche ihre Versionen der Songs ins Netz stellen. Man wird die Lieder also irgendwann doch alle hören können. Schon jetzt kursieren erste Mitschnitte - unbedingt empfehlenswert die charmante Aufnahme des Songs "Old Shanghai" von den Mitarbeitern des New Yorker.

Und dann kann man sich ja auch noch mit den lose ins Buch gestreuten Uralt-Songs anderer Komponisten befassen, klug gesetzte Referenzpunkte für Becks eigenes Schaffen, die insbesondere auch - ach, Quatsch! Wer sich etwas Zeit nimmt, merkt, dass die alle von Beck selbst sind. Er hat sich Songwriter-Pseudonyme und absurde Refrains ausgedacht, damit alles wirkt wie ein richtiges altes Liederbuch. Und das ist mehr als nur Spielerei. Es zeigt: Der "Song Reader" ist ein Werk der Liebe.

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Quelle:
SZ vom 08.12.2012/ihe
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