Süddeutsche Zeitung

Neues Album: R.E.M.:Frisch zerwühlt

Das 15. Album in 30 Jahren: "R.E.M.", das Ur-Uhrwerk des College-Rocks, verläuft sich auf der neuen Platte "Collapse Into Now" trotzdem nicht auf dem eigenen Denkmal.

Max Scharnigg

Wer sich der dreißig Jahre alten Band R.E.M. heute noch nähern möchte, sollte vielleicht zunächst im Netz und mit den Fotos von Todd Selby beginnen. Der Foto-Blogger (theselby.com) aus Brooklyn hat es sich zur Aufgabe gemacht, mit seiner Kamera Indie-Musiker und Künstler in ihren Wohnungen zu besuchen. Er überraschte seine Leser vor einiger Zeit aber auch mit einer Homestory beim Mainstream-Michael Stipe.

Auf den Bildern tummelt sich der R.E.M.-Frontmann in anrührend harmloser Wohnküchen-Kulisse mit Sichtbackstein und wirkt, als wäre er gerade in eine WG eingezogen. Er posiert mit Umzugkartons, auf der Kommode liegt die Schmutzwäsche und sein Freund Thomas Dozol putzt sich derweil die Zähne. Manche sagen, es wären intime Fotos, eigentlich aber ist bei den Jungs nur nicht aufgeräumt.

Stipe und sein Leben wirken jedenfalls so frisch zerwühlt, dass man sich mehrmals vergewissern muss, ob es sich auch wirklich um jenen Herr Stipe aus dem Rock'n'Roll-Museum handelt? Der in den 90er-Jahren vom Ruhm so ausgemergelt war, dass weltweit das Gerücht umging, er werde baldigst versterben. Der aber trotzdem weiterlebte und den größten Plattendeal damaliger Zeiten an Land zog, 80 Millionen Dollar für fünf Alben, zahlbar sofort an ihn, Gitarrist Buck und Bassist Mills und Drummer Bill Berry, der bald danach ausstieg.

Nun, er ist es natürlich. Er war ja immer da, hat immer R.E.M.-Musik gemacht. Hat man nur aus den Augen verloren, zwischenzeitlich. Aber 15 Alben in 30 Jahren - das Ur-Uhrwerk des College-Rocks tickt doch sehr zuverlässig zwischen New Yorker Backsteinen, es gibt nur eben schon lange nicht mehr den Takt an im Pop, sagen wir vielleicht seit New Adventures in HiFi (1996). Denn was war noch mal das Problem mit Monsterbands? Genau, sie sind irgendwann vor lauter Legendenrauschen nicht mehr zu hören oder verlaufen sich auf ihrem eigenen Denkmal. Mehr als für alle anderen Künstler möchte man für Großbands deswegen ein Art Legislaturperiode einführen, nach deren Ablauf endgültig Schluss sein müsste, mit dem Verwässern des Hauptwerks.

Andererseits - wer von denen, die 1990 Losing my Religion mitgesungen haben, hätte gedacht, dass die gleiche Band 2011 ein Album veröffentlichen kann, das nahtlos weitermacht, sich irgendwo zwischen Document und Monster einreiht und nichts sein will, als pure R.E.M.-DNS. Die besteht immer noch aus Peter Bucks aufreizenden Gitarrenläufen und Stipes steppend-monochromer Stimme, die sich gemeinsam mit gewissen Nachdruck und gerne in Mid-Tempo Luft verschaffen, plus natürlich zierendes Geklöppel überall.

Während das Vorgänger-Werk Accelerate unter der einfältigen Großband-Idee "mal wieder bisschen rockiger sein" sehr zu leiden hatte, sollten auf Collapse Into Now (Warner) nach Bekunden der Band "nur beste Songs" sein. Das ist das einzige Motto, das man einem 15. Album noch durchgehen lässt und zwar gerne. Es scheint auch aufzugehen. Der ebenso akustische wie stoische Song Überlin etwa klingt, als wäre er genau so schon immer in den Köpfen der Fans als Pfand hinterlegt gewesen.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, wie prägend R.E.M. für die amerikanischen Alternativ-Rockbands war.

Lieder schreiben, die klingen als hätte das Ohr etwas gefunden, was es nicht gesucht hat, kann R.E.M. immer noch. Während U2, die andere Großband, die fast exakt zeitgleich ihre Rock-Idee auf Stadiongröße ausdehnte, heute ohne Event im Rücken kaum mehr vorstellbar ist, beherrschten R.E.M. das kleine Format. Die Gutmenschen-Strahlkraft eines Bono, das Grenzgängerische von Nirvana, die Epik von Pearl Jam hatten sie nie. Ein Glück, denn all diese wunderbaren Eigenschaften hatten letztlich eine kurze Halbwertszeit.

Die bewegen sich noch

Auf Collapse Into Now nimmt man R.E.M. deswegen auch wieder die Mimikry einer bescheidenen Gitarrenband ab, die einfach ein rundes und ausgewogenes Stück Musik vorlegen möchte. Ein bisschen urbane Melancholie, ein bisschen vom guten alten Hauruck-Rock bei Alligator_Aviator-Autopilot_Antimatter und dazwischen viel Sorgfaltspop, wie man ihn auf einer Rolltreppe gerne hören würde, wenn es nach oben geht.

Welche Mühe hinter dieser Beiläufigkeit steckt, kann man an den Eckdaten der Produktion ablesen: Aufgenommen in drei Monaten in New Orleans, Nashville und Berlin, dabei Gastbeiträge von Eddie Vedder, Peaches, Patti Smith, Lenny Kaye und Joel Gibb von den Hidden Cameras eingesammelt. Geografischer und personeller Input, den ein tolles Komponisten-Duo wie Buck/Mills zwar sicher nicht gebraucht hätte, der aber eine Erdung herstellen und eben signalisieren soll: Die bewegen sich noch.

Freilich, der Aufenthalt in den Berliner Hansa Studios hatte ganz offensichtlich nicht jene kathartische Wirkung, wie sie David Bowie oder U2 vor Jahrzehnten dort widerfahren ist. Dafür wurde die Berlin-Karte zu spät gespielt, zu spät hinsichtlich der Formbarkeit der Band, zu spät aber vielleicht auch hinsichtlich Berlins. Es ist jedenfalls kein Achtung, Baby! geworden. Dafür haben sie mit Überlin immerhin ein komisch unpopuläres Wortspiel als Liedtitel erfunden - und manch ein R.E.M.-Moment klingt diesmal seltsam deutlich nach Element Of Crime.

Wenn auch nicht musikalisch, so ist diese Platte trotzdem eine Zäsur, nämlich eine ökonomische. Mit ihr ist der legendäre Fünfer-Deal mit Warner erfüllt. R.E.M. sind frei und mit ein bisschen Einbildung hört man dieses Freischwimmen auch aus Collapse Into Now heraus. Die haben richtig Bock auf das Ende des Superstardoms. Wobei der Musikmarkt, der sie jetzt erwartet, kein Vergnügungspark mehr ist, vor allem keiner, der stolz auf seine Dinosaurier ist.

Erbaulicher als über ihre Zukunft nachzudenken, ist es deswegen angesichts dieser gelungenen Platte nachzuempfinden, wie prägend dieser Sound für die letzten beiden Dekaden des amerikanischen Alternative-Rocks, ja für den doofen Begriff an sich waren. Von den Lemonheads bis zu den Decemberists wimmelt es seither vor netten College-Jungs mit Gitarren, die ihre nette, linke Turnschuh-Weltsicht in Mitpfeif-Lieder verpacken, mal schnell, mal traurig, am liebsten Mid-Tempo. Das ewige Herumhocken in Brooklyner Backstein-WGs zwischen Skateboard und iMac, ergo das 90er-Jungsein an sich, ist doch eigentlich R.E.M. in Reinform und die Selby-Fotos fassen das Ganze besser zusammen als jedes Best-Of-Album.

Davon abgesehen bleibt das nachhaltigste Verdienst von R.E.M., dass sie einmal die Go-Betweens als Vorband auf Welttournee mitnahmen. Und dass am Ende von Upps die Superpannenshow auf RTL immer ihr It's the end of the World... gespielt wird und einen selbst in dieser Gaga-Kulisse zuverlässig an ein paar der schönsten Momente erinnert, die man mit Popmusik so hatte.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.1068121
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 05.03.2011/tolu
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.