Neues Album: Kanye West:Der Beste

Er inszeniert sich als Jesus und lässt keine Gelegenheit aus, zu betonen, für wie unfassbar bedeutend er sich hält: Kanye West ist die größte Zumutung der amerikanischen Popkultur seit Muhammad Ali. Doch das ist nur ein Teil der Wahrheit.

J.-C. Rabe

Kanye West ist die widersprüchlichste, verrückteste, talentierteste und unsympatischste Figur der gegenwärtigen Popmusik. Es gibt also im Moment keinen besseren Star als ihn. Selbst wenn er mit "My Beautiful Dark Twisted Fantasy" (Universal) nicht gerade auch noch sein fünftes brillantes Album vorgelegt hätte. Und es gibt ihn auch noch mehrmals. Da wäre etwa der größenwahnsinnige Hitzkopf Kanye West, der keinen Spaß versteht und sich trotzdem für keine Peinlichkeit zu schade ist. Das ist der Kanye West, der sich für Fotos für den amerikanischen Rolling Stone mit heiligem Ernst als Jesus inszenieren lässt. Und der keine Gelegenheit auslässt, zu betonen, für wie unfassbar bedeutend er sich hält. Das Netz ist voller wahnwitziger Videobeweis-Schnipsel. 2006 forderte er sogar die Grammy-Jury auf, sein Album "Late Registration" zum bestes Album zu küren. Eine besseres sei in dem Jahr schließlich nicht erschienen.

Neues Album: Kanye West: Es gibt im Moment keinen besseren Star als ihn: Kanye West.

Es gibt im Moment keinen besseren Star als ihn: Kanye West.

(Foto: AP)

Mit diesem arroganten Großmaul eng verwandt ist der Kanye West, der weltweit übertragene Preisverleihungen unter Protest verlässt, wenn er gegen seiner Ansicht nach unwürdige Konkurrenten verliert. Oder der auch mal auf die Bühne stürmt, den Gewinnern das Mikrofon aus der Hand reißt und energisch erklärt, warum er oder einer seiner Freunde den Preis viel eher verdient hätten als etwa Gretchen Wilson, Justice oder Taylor Swift. Dieser Kanye West musste schon reichlich Prügel einstecken. Sogar Barack Obama nannte ihn "Jackass"-Volldepp. Sonderlich nachdenklich hat ihn das glücklicherweise nicht gemacht.

Der unberechenbare Selbstdarstellungstrieb dieses 33-jährigen Mannes ist allerdings nur ein Teil der Wahrheit. Tatsächlich dürfte es keinen Menschen auf der Welt geben, der die Award-Shows des amerikanischen Fernsehsenders MTV so ernst nimmt wie Kanye West. Was für die Verantwortlichen eine gigantische Werbeveranstaltung für den Sender sein soll und deshalb eine mitunter rückgratlose Umarmung des Publikumsgeschmacks ist, das versteht er als historisch relevante Pop-Qualitätsschau. Aus dieser Perspektive jedoch ist ein Preis für die junge Country-Pop-Sängerin Taylor Swift, die mit ihrer Musik und Performance noch etwas weniger als nichts wagt, zweifellos eine beklagenswerte Ungerechtigkeit.

Außerdem gibt es den Kanye West, der den in der Hip-Hop-Welt oft obligatorische Schwulenhass verurteilt und auf einer Benefizveranstaltung des Senders NBC für die Opfer des Hurrikans Katrina mutig genug ist, das politisch korrekte Protokoll zu ignorieren und das desaströse Krisenmanagement des damaligen amerikanischen Präsidenten bloßzustellen: "George Bush doesn't care about black people." - George Bush sind die Schwarzen egal. In seiner gerade erschienenen Autobiografie bezeichnete Bush diesen Moment jüngst als Tiefpunkt seiner Präsidentschaft.

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Die Zumutung

Und dann gibt es noch den tatsächlich begnadeten Produzenten, Musiker, Songwriter, Soundtüftler, Sample-Puzzler, Rapper, Pop-Perfektionisten Kanye West. Dieser Kanye West hat jeden einzelnen seiner mittlerweile 14 Grammys verdient. Kein Popkünstler bekam im vergangenen Jahrzehnt mehr. Für Jay-Zs wichtigstes Album "The Blueprint" (2001) hat er virtuos mit rumpelnden alten Soul-Samples jongliert. Außerdem produzierte er Tracks und Alben für Rapper wie Talib Kweli und Common.

Jedes seiner bislang vier Soloalben von "The College Dropout" (2004) über "Late Registration" (2005) und "Graduation" 2007) bis zu "808 & Heartbreak" (2008) war auf seine eigene Art ein wirklich außergewöhnlich vollkommenes Popalbum. Songs wie "Jesus Walks", "The New Workout Plan" oder "Love Lockdown" gehören zu den besten Popsongs, die je aufgenommen wurden. Auf "808 & Heartbreak" gelang ihm auch noch das Unmögliche: ein großes, ernstzunehmendes Popalbum, auf dem er seine Stimme durchgehend vom Tonhöhenkorrekturprogramm Auto-Tune zu einem eigentlich kaum erträglichen, humanoiden Flattern verfremdete. Ach ja, und natürlich waren alle Platten auch noch enorme kommerzielle Erfolge. 12 Millionen Alben hat der er bislang verkauft.

Der herrschende Entertainment-Imperativ "Sei mindestens der Beste, aber bleib dabei bitte ein supernetter, selbstironischer, lockerer, bescheidener Typ" - dieser Imperativ kümmert Kanye West kein bisschen. Das liebedienerische selbstironische Quatschmachen überlässt er Justin Timberlake. Das ist die Zumutung. Er weiß, wie schwer es ist, der Beste zu sein, aber er weiß auch, wenn er der Beste ist. Und dann geht es nicht darum, diesen Erfolg wieder kleinzureden, damit man von allen geliebt wird, sondern darum, dafür zu sorgen, dass auch wirklich alle davon erfahren.

Und wenn man das seit Montag auf der ganzen Welt erhältliche neue Album hört und die irre, stilwütige Bilderwelt der ersten Videos und Fernsehauftritte sieht, kann man das sogar verstehen. In der Comedy-Sendung "Saturday Night Live" präsentierte er die Single "Power" im roten Anzug und mit einem goldenen Lorbeerkranz auf dem Kopf. Und es gibt einen cineastisch ambitionierten 35-minütigen Kurzfilm zum Album.

Maximal informiert

Kanye West hat aus Hip-Hop den besseren Pop gemacht und aus diesem Hip-Hop-Pop ein Gesamtkunstwerk. Und "My Beautiful Dark Twisted Fantasy" beweist, dass ihm noch nicht die Luft ausgegangen ist. Im Gegensatz zu allen anderen wegweisenden Hip-Hop-Pop-Produzenten der vergangenen zehn Jahre von Timbaland, den Neptunes, Missy Elliott bis zu Danger Mouse.

Die Songs auf dem neuen Album sind mit dem ganz großen, sich alles, also wirklich alles einverleibenden Pop-Ohr zusammengepuzzelt worden. Und mit der ebenso dreisten wie minimalistischen Stilsicherheit, die nur ein Produzent haben kann, der im Zeitalter der allumfassenden Verfügbarkeit der gesamten Popgeschichte groß geworden ist. Das Album ist also mindestens so zeitgenössisch, wie es maximal informiert ist.

In der Titelhymne "Dark Fantasy" ist der Refrain "Can we get much higher" aus Mike Oldfields Kitsch-Pop "In High Places" geborgt. In den Strophen klimpert neben einem stumpfen Synthie-Riff ein einfaches Klavier-Ostinato über einem breit rollenden Beat. So einfach ist das. Und so schwer zu verstehen ist, warum es funktioniert. Und das ist nur der Anfang. "Power", "Gorgeous", "Runaway", "All Of The Lights" - das Gespür, mit dem Kanye West so unterschiedliche Stars wie Jay-Z, Bon Iver oder Rihanna auf diesem Album mit entlegenen Samples, sperrigen, übersteuerten Sounds, süßesten Melodien und rumpeligsten Beats vermählt, ist derzeit einzigartig.

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